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Abendfrieden

Abendfrieden

Titel: Abendfrieden
Autoren: Monika Buttler
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tätig und erforschte als Geophysiker Klimazonen oder so was, und inzwischen schien er dort beinahe zu übernachten. »Ja, da müssen wir jetzt durch, wir können Mutter schließlich nicht ins Heim geben«, hatte er gesagt und mit »wir« selbstverständlich sie gemeint. Und so hatte sie ihren Job aufgegeben und sich auf die »Betreuung« seiner Mutter eingelassen. »Für die eigentliche Pflege engagier ich natürlich jemanden«, hatte er sie beruhigt. Diese Dreimal-pro-Tag-Hilfe im »Minutentakt« – was für eine unwürdige Erfindung – kostete bereits 1400 Euro im Monat. Nun gut, das war Norberts Sache. Wenn das Erbe seiner Mutter dahinschmolz, sich aufbrauchte durch zunehmend aufwändigere Pflege … Aber vielleicht reichte es ja auch. Amalie Mewes’ Vater war Teilhaber bei einer der berühmten Schokoladen-Fabriken in Hamburg-Wandsbek gewesen, und davon zehrte die Tochter noch immer. Ein süßes Erbe, das ihr Körper ihr äußerst übel genommen hatte.
    Denn inzwischen war Amalie Mewes multimoribund. Diesen Ausdruck hatte Regine in der Zeitung gelesen. Es bedeutete, dass ein Mensch viele Krankheiten auf einmal hatte und dafür dementsprechend viele Medikamente nehmen musste.
    Dafür war sie, Regine, zuständig. Sie griff nach der länglichen Schachtel, einer gefächerten Palette, wie man sie in Krankenhäusern verwendete und nahm die Tabletten für ›morgens‹ heraus. Mit einem Glas reichte sie alles ihrer Schwiegermutter. Tabletten gegen Diabetes, Herzschwäche, Arthrose und Osteoporose.
    Grausam. Vielleicht musste sie selbst auch bald welche gegen Knochenerweichung schlucken? Schließlich war sie 46. »Bist du eigentlich schon im Wechsel«, hatte Norberts Mutter neulich gefragt, »oder hast du noch deine –«
    »Ich glaube, das geht dich nun wirklich nichts an«, hatte sie gezischt und war kurz davor gewesen, der Alten ins Gesicht zu schlagen. Aber erstens war sie nicht gewalttätig und zweitens – Regine schüttelte sich innerlich. Die Alte anfassen? Undenkbar. In ihren Gedanken war sie nur ›die Alte‹, obwohl man so etwas doch weder sagte noch dachte, fast kam da bei ihr ein schlechtes Gewissen auf.
    Sie riskierte einen Blick und bemerkte, wie Amalie Mewes’ Gebiss an einer Seite bis zur Unterlippe heruntergerutscht war. Verdammt! Das musste Dörte aber am Mittag richten! Bevor die Essensarie losging. »Du musst jetzt deine Übungen machen«, sagte Regine. Sie hatte bereits die Krücken in der Hand und näherte sich mit angehaltenem Atem dem Rollstuhl. »Das Wasser war wieder eiskalt«, erwiderte Amalie Mewes, ohne darauf einzugehen.
    »Leitungswasser ist nie eiskalt.«
    »Doch, ist es. Du bringst mir jetzt sofort meine Zigaretten.«
    Warum wieder übers Rauchen diskutieren, dachte Regine. Sollte sich die Alte doch zu Tode rauchen. Außerdem war es einfacher, eine Schachtel Zigaretten von der Kommode zu nehmen, als die zweihundert Pfund schwere Amalie Mewes vom Rollstuhl auf die Beine zu stellen. Natürlich hatte sie, wenn es anstand, die richtigen Griffe drauf. Hatte ihr Dörte beigebracht. Sie und Dörte sahen sich irgendwie ähnlich, fand Regine. Beide mittelgroß und kräftig, sie selbst leider etwas kurzbeinig. Ihre beige-braunen Haare waren auf Oberkante Ohr geschnitten.
    »Feuer!«, befahl die Alte.
    Regine ließ das Streichholz aufflammen. »Ich mach dir jetzt Frühstück.«
    »Aber nicht wieder so Körnerkram. Und gib mir schon mal meine Schokolade.«
    Die Schwiegertochter warf ihr eine Tafel in den Schoß und ging in die Küche. Während der Kaffee durch die Maschine gurgelte, stellte sie den Oldie-Sender an. Der Hörgenuss dauerte nur Sekunden. »Was ist das für ein Krach?«, blaffte es wütend aus dem Nachbarzimmer. »Stell sofort die Negermusik ab.«
    Regine drehte das Radio aus und atmete langsam und tief durch. Als sie das Frühstückstablett füllte, stellte sie fest, dass ihre Hände bebten. Noch einmal zog sie die Luft ein.
    Dann ging sie zurück und knallte das Tablett auf den Beistelltisch. »Hier!« Schon war sie wieder an der Tür. »Die Äpfel sind nicht klein geschnitten –«, hörte sie noch, bevor sie die Tür zuwarf und sich die Ohren zuhielt.
    Im Obergeschoss, wo sie sich ein persönliches Zimmer eingerichtet hatte, ließ sie sich entnervt auf ihre helle Couch fallen und wählte Norberts Nummer. »Wann kommst du heute nach Hause?«
    »Warum?«
    »Warum, warum …« Regines Aggression steigerte sich. »Also, wann kommst du?«
    »Ich hab hier noch eine ganze Menge
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