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Abaton

Abaton

Titel: Abaton
Autoren: C Jeltsch
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Ziel zu kommen. Aber sie waren nie angekommen. Die Behörden hatten die Suche nach vier Wochen eingestellt. Es gab keine Spuren. Nichts. Die Behörden gingen schließlich davon aus, dass Linus’ Eltern absichtlich untergetaucht waren. Es gab keine andere Erklärung.
    Linus hatte keine Chance, die Behörden vom Gegenteil zu überzeugen. Dass seine Eltern einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein mussten. Wer glaubt schon einem 13-jährigen Jungen? Das war vor einem Jahr.
    Also geschah mit ihm, was mit Kindern geschieht, wenn es keine nahen Verwandten gab.
    Linus wurde „abgewickelt“.
    Schnell fand sich eine schrecklich liebevolle Pflegefamilie, bei der er unterkam. Ein evangelischer Pfarrer war nun sein „Vater“. Und mit einem Schlag hatte Linus auch noch zwei gestriegelte, adrette jüngere Geschwister. Martin und Katharina; Zwillinge. Nett. Zum Kotzen. Linus pfiff viel in dieser Zeit. Viele fröhliche Lieder und alle um ihn herum staunten, wie gut er sein schreckliches Schicksal verkraftete. Insgeheim nannte er die Familie „die Flanders“.
    Aber ein Linus Flanders wollte er niemals werden.
    [ 1117 ]
    Seine Eltern hatten an jenem 22. September vor einem Jahr noch mit Linus telefoniert. Sie befanden sich in der U-Bahn. Redeten wie immer durcheinander, wenn sie mit ihm sprachen. Was Linus ziemlich nervte. Sie berichteten von dem bevorstehenden Treffen, bei dem sie ihre unglaubliche Entdeckung vorstellen wollten. Hundertfach, ach was, tausendfach würde sich das Geld auszahlen, das sie schon in ihre Forschungen investiert hatten. Dann war einen Moment Stille. Die U-Bahn sei stehen geblieben, sagte sein Vater und Linus hörte, wie sich die Eltern unterhielten.
    „Was ist das ...?“, fragte der Vater auf einmal mit großem Erstaunen in seiner Stimme. Daran konnte sich Linus noch genau erinnern. Es hatte ihn überrascht, seinen Vater so erstaunt zu hören. Den Mann, der ihm die Welt sonst immer klar erklärt hatte. Mit einer Sicherheit, die Linus ihm gegenüber mehr und mehr verstummen ließ. Zu groß, zu übergroß war sein Wissen. Was also konnte diesen übermächtigen Vater jetzt in Erstaunen versetzen?
    Die Mutter schimpfte gut vernehmlich über die Berliner Verkehrsbetriebe und dass sie nun vielleicht zu spät zu ihrem Termin kämen. Dann fiel ihr ein, dass sie ja noch Linus am Apparat hatte. Sie sagte ihm, es handle sich offensichtlich um einen außerplanmäßigen Stopp – vielleicht irgendeinen Defekt – und dass er sich keine Sorgen machen müsse.
    „Alles klar“, sagte Linus und legte auf. Er machte sich keine Sorgen. Was seine Eltern taten, interessierte ihn nicht besonders. Das war ihr Zeug. Er wollte davon nichts wissen. Im Grunde aber war er eifersüchtig auf dieses „Zeug“. Auf die Forschungen der Eltern, denen sie sehr viel mehr Zeit widmeten als ihm. Auf die Pflanzen, die sie züchteten, die in der ganzen Wohnung herumstanden und die mehr gehegt und gepflegt wurden als er, selbst als er noch klein war. Linus hatte sich das nie eingestanden. Er hatte andere Sorgen. Er musste irgendwie mit den nervenden Lehrern, den beängstigenden Schatten seiner Nächte und mit seinem Körper klarkommen, der sich in letzter Zeit so komisch veränderte. Kurz und gut, die Pubertät machte ihm zu schaffen. Auch an diesem 22. September.
    Er war mit Judith verabredet.
    Judith, die Neue aus dem Nachbarhaus. Sie war nicht hübsch, aber hatte was. Sie war schon 15 und hatte als Einstand in der Klasse von Linus Regenwürmer gefressen. Die Mädchen ekelten sich, die Jungs hielten sie für verrückt; Linus aber fand, sie hatte Potenzial. An diesem Tag wollte sie Timber Skateboardfahren beibringen. Linus wollte es filmen und ins Netz stellen.
    Es war nachmittags, wenn Olsen sein Mittagsschläfchen zu halten pflegte. Linus pfiff sein Lied, um Timber zu rufen. Da tauchte der Hund auch schon am Zaun auf und huschte durch eine Lücke in den Maschen.
    Linus wunderte sich wieder einmal über Judith. Keine Ahnung, wie sie das geschafft hatte, jedenfalls hatte sie das Herz des Hundes im Sturm erobert. Dabei gehörte sie nicht zu denen, die Hunde ständig streicheln mussten. Im Gegenteil. Sie nahm Timber hart ran. Und Timber gehorchte. Wie auch Linus gehorchte. Er tat, was Judith befahl. Filmte, wenn Judith es sagte. Timber rollte wackelig durchs Bild. Und das Seltsame war, dass sich die beiden Kerle nicht einmal schlecht dabei fühlten.
    Linus war schon öfter mit Timber zu der Unterführung gegangen und hatte versucht, den
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