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Abaton

Abaton

Titel: Abaton
Autoren: C Jeltsch
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nicht nur gelernt, wie man von einem Schuhabdruck auf die Größe des Fußes und von der Art der Sohlenabnutzung auf den Charakter des Schuhträgers schließen kann. Sondern auch, wie man mit einem Universaldietrich jede Tür öffnet.
    Linus zog den Dietrich aus der Weste mit den unendlich vielen Taschen. Jede Tasche stand für eine bestimmte Funktion. Und jede Funktion sollte ihm auf seinem Weg nützlich sein, das Geheimnis über das Verschwinden seiner Eltern zu lüften.
    Es dauerte nicht lange und Linus hatte das Schloss der Stahltür geöffnet. Schwieriger war es, sie aufzustoßen. Die Jahre, in denen sie unbenutzt gewesen war, hatten Rost und Dreck in den Scharnieren wuchern lassen. Linus stemmte sich gegen das kühle raue Metall. Langsam bewegte sich die Tür und die Bewegung ließ die Eisenscharniere aufjaulen. Wie ein junger Hund, dachte Linus und rief sich Timber ins Gedächtnis, seinen haarigen Kumpel seit er elf war. Timber war nicht sein eigener Hund gewesen. Nein, seine Eltern wollten keine Haustiere. Sie wollten eigentlich fast nie, was Linus wollte. Timber war der Hund von Olsen; »der ahle Blötschkopp«, wie er im Viertel genannt wurde. Olsen lebte mit Timber im kleinen Gartenhaus der Vorkriegs-Wohnanlage in der Aachener Straße. Der Hund diente dem Mann als Waffe. Als Schutz. Jedenfalls klang er absolut gefährlich. Niemand hatte sich je getraut, sich Olsens kleinem Grundstück zu nähern. Kaum jemand hatte ihn je zu Gesicht bekommen. Und die, die ihn gesehen hatten, hatten ihm diesen Namen gegeben: »Blötschkopp«. »Blötsch« für die riesige Delle in seinem kahlen Kopf. Man munkelte, dass die Delle vom Krieg herrührte. Doch wenn das so war, dann musste Olsen älter als uralt sein. Vielleicht war er ja ein lebendiger Toter, wie es die Jungs vom Fußballverein behaupteten.
    Es war Zufall gewesen, dass Linus eines Tages Timber begegnete. Er brachte wie immer den Biomüll seiner Eltern zur Tonne. Da hörte er ein Jaulen. Linus ging dem jämmerlichen Klagen nach und fand den braunen Timber, der sich im Zaun verfangen hatte. Linus hatte Angst. Klar. Aber der Hund und sein Jaulen dauerten ihn. Linus hatte dieses Wort mal irgendwo gelesen und fand, dass es genau auf das zutraf, was er in diesem Moment empfand. Dieser Hund dauerte ihn. Also nahm er all seinen Mut zusammen und pfiff. Das hatte sich als ganz praktikabel herausgestellt, wenn Linus nicht wollte, dass andere merkten, wie groß seine Angst war. Und je mehr Angst er hatte, desto fröhlicher pfiff Linus. Es war ein sehr fröhliches Lied, das er da pfiff, als er Timber aus seiner misslichen Lage befreite, und es beruhigte Timber. Von diesem Tag an war Timber sein Kumpel und wenn Linus das Lied pfiff, kam Timber angelaufen.
    Linus schlüpfte durch den schmalen Spalt, den er aufgestoßen hatte, und zuckte zurück. Wie aus dem Nichts war sie da. Die U-Bahn. Flackernde Lichter huschten an ihm vorbei. Momentaufnahmen teilnahmsloser Gesichter von Passagieren. Linus schaute auf seinen Plan. Darauf hatte er alle Fahrzeiten der U-Bahnen notiert, die seinen Weg kreuzen würden. Die U1 ... sie hatte zwei Minuten Verspätung, stellte Linus fest. Er brachte einen Sticker an der Stahltür an und richtete eine Zeit lang den Lichtkegel seiner Taschenlampe darauf. Der Sticker, ein Stern, strahlte. Gut so. Er knipste sie zufrieden aus. Linus hatte noch eine Menge dieser Sticker in der größten Tasche seiner Weste. 102 Leuchtsterne für 7 Euro 95, bei Amazon gekauft. Er hatte vor, die Sterne an den verschiedenen Abzweigungen zu befestigen, um den Rückweg wiederzufinden. Die Idee war ihm im Geschichtsunterricht gekommen. Da war es um das Labyrinth des Minotaurus und Ariadnes Faden gegangen. Sein Großvater hatte schon recht gehabt, auch wenn Linus es ihm nie geglaubt hatte: In der Schule lernt man fürs Leben. Als Linus in den Tunnel Richtung Haltestelle Humboldthain verschwunden war, da tauchten Schatten auf wie knochige Hände und fingerten die rettenden Sterne von der Wand.
    Unbeirrt kam Linus seinem Ziel immer näher.
    Er passierte den düster beleuchteten Geisterbahnhof, der nicht mehr benutzt wurde. Aufmerksam auf jedes Geräusch achtend, blieb er plötzlich stehen. Waren da Schritte hinter ihm? Linus schaute sich um. Nein. Nur der Widerhall seiner eigenen Stiefel mit den Metallkappen an den Sohlen. Los, weiter. Linus musste schnell zum Nord-Süd-Tunnel gelangen. Dort waren seine Eltern verschwunden. Diesen Tunnel hätten sie passieren müssen, um an ihr
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