Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Abaton

Abaton

Titel: Abaton
Autoren: C Jeltsch
Vom Netzwerk:
verharrte er noch. Sah hinauf zu einem Fenster des noch intakten Gebäudes auf der Nordseite. Er wartete. Worauf? Da! War das ein Gesicht hinter dem Fenster im obersten Stockwerk? Das Gesicht eines Kindes? Bernikoff lächelte, hob die Hand, wie zum Gruß.
    Vom Küchenfenster des obersten Stocks verfolgte das kleine Mädchen, wie der Mann mit den Farbeimern und Pinseln in den Untergrund verschwand. Mit seinem ernsten und hellen Gesicht hatte es die Hand zum Winken erhoben. Die Beine in Metallschienen, saß das Kind in seinem Bettchen. Die Geräusche der Fliegermotoren kamen näher. Da nahm ein Mann das Mädchen zärtlich in die Arme, um still mit dem Kind zu beten.
    Bernikoff stieg hinab.
    Hier unten verstummten die Sirenen und die Motoren der feindlichen Flieger. Je tiefer er kam, desto stiller wurde es. Bernikoff liebte die Stille, die Einsamkeit. Doch an diesem Abend war er nicht allein hier unten. Das aber wusste er nicht. So sprang er von der Rampe, die zum Notausstieg führte, auf die Gleise und verschwand in der Schwärze des Tunnels, verschluckt wie von einem riesigen Schlund, in den schon lange kein Tageslicht mehr gefallen war. Dieser Tunnel ist dunkler als schwarz, dachte Bernikoff. Dunkler als schwarz ... Er nahm sich vor, die Logik dieses Gedankens zu untersuchen. Wenn der Krieg vorbei sein würde. Wenn ...
    Bernikoff folgte den Gleisen, bog an den Weichen zielsicher in die richtige Richtung ab. Er kannte den Weg durch das Gewirr nur zu genau. So oft war er ihn gegangen in den letzten Monaten. Nachdem es ihm gelungen war, das letzte Geheimnis zu lüften, und er bereit war, die Botschaft weiterzugeben. An jene, die wachen Geistes und tapferen Herzens waren. So lautete das Versprechen, das er sich selbst gegeben hatte. Bernikoff war entschlossen, es zu halten. Diesen Ort unter der Stadt hatte er gewählt, um seine Botschaft zu veröffentlichen. Die Botschaft, die die Menschen auf ewig von jeder Tyrannei befreien und endlich, endlich zu sich selbst führen würde. Seine kleine, scheinbar harmlose Bildergeschichte vom Bienenstaat »Abatonia«, mit der er seine Botschaft in der »Berliner Zeitung« hatte verbreiten wollen, war auf Geheiß des Reichspropaganda-Ministeriums nach nur drei Episoden eingestellt worden. Die Geschichte von zwei einfachen Bienen, die es auf eine unbewohnte Insel verschlagen hatte und die dort die Welt neu erschaffen wollten; nach dem großen Sterben der Völker.
    Irgendjemand hatte herausgefunden, was Bernikoff wirklich hatte sagen wollen mit seinen scheinbar kindlichen Bildern. Also war er auf die Idee mit dem Untergrund gekommen. Hätte er gewusst, dass Berlin wenige Stunden später kapitulieren würde, hätte sich Bernikoff sicher nicht mehr in den Tunnel gewagt. Doch so hatte er sich anders entschieden. Aber wer wusste damals schon so genau, wie lange das Tausendjährige Reich noch dauern würde?
    Lichter.
    Wie aus dem Nichts tauchten sie auf. Wie Augen, die plötzlich geöffnet wurden. Sie blendeten Bernikoff, schossen heran. Und vorbei. Ein Triebwagen. Der Fahrtwind riss an Bernikoffs Hut, an seinen Haaren. Er schaute dem Zug nach und löste sich aus der Nische. Dann schaltete er die Lampe ein, die er mitgenommen hatte. Er leuchtete auf die Wand des Tunnels, der hier von dem Nord-Süd-Tunnel abbog, und war zufrieden mit den riesigen Bildern, die er bereits an die Wand gemalt hatte.
    Er eilte an der Schiene entlang weiter in den Tunnel hinein.
    Bernikoff bemerkte nicht den Blick, der ihm folgte. Er hörte auch nicht die Männer, die sich kaum hundert Meter entfernt an der Decke des Nord-Süd-Tunnels zu schaffen machten. Mit Leitern waren sie zu der Decke des Tunnels geklettert und befestigten seltsame Pakete. Unzählige. Verbunden mit einer Zündschnur ...
    „Er ist da!“, sagte ein Kahlkopf leise, der aus dem Dunkel des Tunnels gelaufen kam.
    „Bernikoff?“, fragte der junge Mann, dem der Kahlkopf Meldung gemacht hatte. Am Revers des Jüngeren prangte das Parteiabzeichen der NSDAP. Die Swastika, ein Symbol, das einmal Wohlstand und Gesundheit versprochen hatte und jetzt umgekehrt der ganzen Welt den Tod brachte. Der Bote nickte und der junge Mann wandte seinen Blick zu den Arbeitern auf der Leiter.
    „Erledigt?“
    „Erledigt“, sagten die Männer.
    „Und das ist der richtige Standpunkt hier?“
    „Absolut!“
    Kurz darauf erschütterte eine gewaltige Explosion die Eingeweide der riesigen Stadt. Es war gut geplant. Die Menschen in den Bunkern mussten das Donnern für
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher