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Aasgeier

Aasgeier

Titel: Aasgeier
Autoren: Peter J. Kraus
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würden uns schon wieder finden. Wenn nicht, konnte man gegen das Schicksal nicht an. Abwarten.
     
    Mein trauriges Navigationssystem hatte am Abend unseres zweiten Reisetages seine Batterien verputzt, hatte kurz gezwinkert und sich verabschiedet. Damit war ich gezwungen, in Sichtweite der Küste zu bleiben, nachts ein paar Stunden den Treibanker zu setzen und frühmorgens, wenn der Nebel kam, einen zeitraubenden vierstündigen Nordwestbogen zu fahren. Bis jetzt hatte ich keinen Coast-Guard-Kutter gesehen, also waren wir vermutlich noch südlich der US-Grenze. Konnte aber nicht mehr lange dauern. Die Küstenwache lässt uns sowieso ziemlich in Ruhe. Jedes Jahr im Februar und März haben Rick und ich Walfreunde von der Lagune bis nach San Diego gebracht, umgeben von heimziehenden Grauwalen, und die Heimatschützer auf ihren schnellen Schiffen hatten durch die Ferngläser herübergeschaut, festgestellt, dass alles an Bord weiße Hautfarbe spazieren trug und uns unbehelligt ziehen lassen. Mit denen würde ich keinen Ärger haben.
     
    Sonnabendnachmittag kam uns die Catalinafähre auf Südkurs entgegen, unterwegs zum Heimathafen in Orange County. Also doch schon weiter nördlich, als ich angenommen hatte. Der Bergrücken, den wir vor einer Stunde passiert hatten, konnte Mount Palomar sein. Demnach waren wir zwischen San Diego und Los Angeles. Ich orientierte mich am Wolkenkranz, der halb links voraus überm Pazifik hing, und gegen acht liefen wir in den Hafen von Avalon ein, gerade, als die letzte Inselfähre des Tages Kurs auf das zwanzig Meilen entfernte Los Angeles nahm. Ich machte am Besucherpier fest, verstaute alles, schnappte den schon mächtig ruhelosen Ricky und ging von Bord.
    Die Hafenmeisterei war verlassen. Ein handgeschriebenes Schild bat ankommende Skipper, ihren Heimathafen und ihr Ziel in den USA doch bitte auf dem beiliegenden Block zu notieren und sich während der vormittäglichen Öffnungszeiten einzufinden, falls ein persönlicher Kontakt nötig sei. Ich schrieb Los Santos, BC, Mex und Santa Barbara, CA, notierte meine kalifornische Führerscheinnummer und unsere Daten – Jon Valentine, geb. Feb 14, 1970, Las Vegas, Nev, US-Staatsbürgerschaft, und Rick Valentine, geb. Sept 25, 2008, Laughlin, Nev, US-Staatsbürger – und warf das Blatt mitsamt den paar Dollar Liegegebühren durch den Briefschlitz in der verwitterten Holztür. Dann gingen wir zwei erst mal schön essen.
    Ricky kannte Pizza nicht, also bestellte ich eine. Er staunte. „Mas“, war seine Meinung, mehr davon. Zwei ordentliche Dreiecke stopfte er in sich hinein, spülte mit Cola nach und lehnte sich zufrieden in seinen Kindersitz, als sein Pappteller endlich leer war. Die Sonne hatte sich blutrot verabschiedet, die verbleibenden Touristen fanden sich zum abendlichen Besäufnis ein, und ich beschloss, erst mal ausgiebig zu schlafen. Ricky war meiner Meinung – das zweite Stück Pizza hatte ihn eindeutig geschafft. Vor Pizzeria da Antonio nahm ich ihn Huckepack, worauf er prompt einnickte, und so marschierten wir zurück zum Hafen.
     
    Mir hat an Avalon immer gefallen, dass es keinen richtigen Autoverkehr hat. Die einzige Stadt auf der Insel hat nur an die achttausend Einwohner und wer dort lebt, der fährt elektrischen Golfkarren, elektrisches Moped, Fahrrad oder hüpft auf einen der Kleinbusse, die von der Inselverwaltung eingesetzt werden. Die paar Autos, die per Ausnahmegenehmigung gehalten werden dürfen, zählen nicht. Das Verkehrsaufkommen erinnert an tiefste tibetanische Provinz. Ideal für Familien mit Kindern, weshalb Ricky und ich nicht auffielen.
    Kinder haben einen ausgeprägten sechsten Sinn. Als ich am Eissalon vorbeiging, wachte mein Sohn auf.
    „Helados“, freute sich Ricky, der von seinem Platz auf meinen Schultern freien Blick durch die Schaufensterscheiben hatte.
    „Ice cream“, belehrte ich.
    „Helados“, beharrte er und hatte natürlich recht.
    „Hier in Amerika heißt es aber ice cream".
    „Helados“
    Also bestellte ich bei der grinsenden Latina hinterm Tresen dos helados.
    „Grandes?“
    „Claro“, bestätigte Ricky.
     
    Wir spazierten gemächlich mit schokoladeneisbraunen Lippen zum Hafen hinunter, gingen am Strand entlang zum knallgelbstuckverzierten Avalon Ballroom, der wie eine gewaltige Hochzeitstorte am Hafeneingang steht und bei den Big Bands der Streifenanzug-Ära beliebt war, und setzten uns auf die Bank vorm einsamen Telefonhäuschen. Ich musste ein paar Anrufe machen, aber nicht vor
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