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80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

Titel: 80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste
Autoren: Martin Clauß
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klaren Flüssigkeit gefüllte Flasche ohne Etikettierung, ein leerer Briefblock und ein Bleistift. Sir Darren entkorkte die Flasche und schnüffelte daran. Er verzog das Gesicht.
    „Was ist das? Spiritus?“
    Sein Wettpartner hob die Schultern. „Sir, Sie können die Tasche hier zurücklassen, wenn sie Ihnen lästig ist. Wir werden sie für Sie aufbewahren.“
    „Nein. Ich nehme sie mit.“
    „Dann gehen Sie die Wette ein?“ Der Junge hatte rote Ohren vor Aufregung bekommen. „Tatsächlich?“
    „Woher wollen Sie wissen, ob ich wirklich die ganze Welt umrundet habe, wenn ich hierher zurückkehre?“
    „Oh, Sie sind ein Ehrenmann. Sie werden uns nicht belügen.“
    Das war eine reine Provokation. Sir Darren glaubte ihnen kein Wort. Immer wieder starrte er auf seine dürren Hände. Immer wieder verblassten sie, und er konnte durch sie hindurch den Stoff seiner Hose erkennen. Er kam sich verrückt vor, als er sagte: „Ich nehme die Wette an.“
    „Wunderbar!“, freuten sich die anderen und applaudierten gleichzeitig.
    Der Butler schüttelte ihm die Hand. „Sir, wenn ich das sagen darf, Sie haben Mut und wären ein würdiges Mitglied für unseren Club.“
    „Danke, aber ich ziehe es vor, mich hinauswerfen zu lassen“, brummte Sir Darren, nahm die Tasche mit den fragwürdigen Utensilien und verließ das Zimmer. Die Tür des blauen Salons öffnete sich vor ihm, und dasselbe tat die Haustür. Zunächst stand er einige Minuten wie benommen auf dem Gehweg, bis eine Frau sich ihm von hinten näherte und – durch ihn hindurch ging.
    Er sah ihr nach, als wäre er einem Geist begegnet, und es schauderte ihn. Es schauderte ihn noch einmal, als ihm einfiel, dass nicht die Frau der Geist war.
    Man hatte ihm die Wahrheit gesagt. Es war nicht nur irgendein optischer Trick oder ein flüchtiger Zauber gewesen. Er befand sich tatsächlich körperlich nicht mehr in dieser Welt.
    Wie sollte er ein Schiff finden, das ihn um die ganze Erde brachte?
    In lächerlichen achtzig Tagen?
    Was für ein grausames Spiel war das?

5
    Die Strecke zurück am Hauptbahnhof vorbei und dann weiter Richtung Hafen war der seltsamste Weg, den Sir Darren in seinem Leben zurückgelegt hatte. Zunächst gab er sich alle Mühe, den Passanten auszuweichen, was viel schwieriger war als sonst, da sie ihn nicht wahrnahmen. Dann, in der belebten Umgebung des Bahnhofs angekommen, gab er es auf, nahm seine Körperlosigkeit hin und schritt durch die Menschen hindurch. Körperlich spürte er nichts. Aber er kam sich dabei vor wie ein zum Tode Verurteilter, der mutig seinen letzten Weg zu Schafott zurücklegte.
    Er versuchte nachzudenken, wie dies alles in sein Schicksal passte. Ob seine erzürnten Geistführer im Hintergrund die Fäden zogen, ob dies hier zu ihrem Plan passte, ihn auf besonders demütigende Art und Weise zu vernichten. Er fand keine Anhaltspunkte dafür oder dagegen und gab das Grübeln auf.
    Was ihn besonders irritierte, war, dass er ab und an Menschen begegnete, die ihn zu sehen schienen. Drei waren es auf dem Weg zum Bahnhof, und weitere, während er an den Hafenanlagen entlangging. Kinder und Erwachsene, männlich wie weiblich. Sie blickten eindeutig in seine Richtung, verfolgten seine Schritte für ein paar Sekunden und wandten sich dann ab. Er fühlte sich versucht, auf sie zuzugehen und sie anzusprechen. Einmal tat er es tatsächlich, mit dem Ergebnis, dass die dicke Frau in dem geblümten Kleid, die ihn angestarrt hatte, leichenblass wurde, ihre Tasche fallen ließ und schwer atmend die Flucht ergriff.
    Ein junger Mann mit sonnengebräuntem Gesicht, der eben noch scheinbar fröhlich den Weg entlanggeschlendert war, sprang auf die Tasche zu, schnappte sie sich und rannte davon. Sir Darren, auf den der Dieb geradewegs zulief, breitete instinktiv die Arme aus und stellte sich ihm in den Weg, doch wie hätte er ihn aufhalten sollen? Der Mann jagte durch ihn hindurch und verschwand hinter einem Gebäude.
    Der Dozent ließ die Schultern sinken und schwor sich, nie wieder eine Dummheit wie eben zu begehen.
    Die Hafenanlagen waren riesig. Sir Darren erinnerte sich, irgendwo gelesen zu haben, dass Amsterdam der fünfgrößte Hafen Europas sei. Gewaltige Frachtschiffe wurden von winzigen Männern in blauer Kleidung und gelben Westen beladen, monströse stählerne Kolosse, von denen sich kein normaler Mensch jemals erklären konnte, warum das Wasser sie trug. Die unterschiedlichen Bassins waren für unterschiedliche Schiffs- und Frachtarten
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