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74 - Mein Leben und Streben

74 - Mein Leben und Streben

Titel: 74 - Mein Leben und Streben
Autoren: Karl May
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die, welche nur deshalb niemals stürzten, weil sie entweder niemals hoch standen oder nicht die nötige innere Freiheit besaßen, stürzen zu können. Ich will wieder zu ihnen hinab, jetzt als fast Siebzigjähriger, nicht gezwungen, sondern aus freiem Willen, aus eigenem Entschluß. Ich will ihnen sagen, was ihnen noch niemand zu sagen wagte, nämlich daß ihnen niemand helfen kann, wenn sie sich nicht selbst zu helfen wissen. Daß sie verloren sind, außer sie retten sich aus eigener Kraft durch eigene Kraft. Durch engsten Zusammenschluß unter sich selbst. Ich will ihnen mein Beispiel vorhalten, mein Leben und mein Streben. Will ihnen zeigen, was aller gute Wille und alle Mühe fruchtet, wenn bei andern dieser gute Wille fehlt. Ihnen zeigen, daß ein einziger unfairer Rechtsanwalt oder dieser eine, einzige Paragraph 193 genügt, selbst die schönsten und die besten Erfolge der Willensstärke, der christlichen Liebe und der Humanität mit einem Schlag zunichte zu machen. Ich will ihnen sagen, daß es eine Sünde von der Menschheit ist, ihre Mitschuld an der Schuld der Schuldigen zu verbergen. Daß es aber auch von diesen ein Fehler ist, zu verheimlichen, daß sie einst schuldig waren. Unser Leben, mein Leben, ihr Leben soll frei vor Gottes Auge liegen, besonders aber auch frei vor unserem eigenen Auge. Dann zürnen wir nicht, und dann grollen wir nicht. Denn dann sehen wir ein, warum wir fallen konnten: Wir fielen durch uns selbst. Und sehen wir das ein, so können wir uns selbst verzeihen, und wer sich selbst verzeihen darf, dem wird verziehen werden. Weg also mit der falschen Scham, und heraus mit der Offenheit! Nur das Geheimnis, in das wir uns hüllen, gibt jenem Paragraphen und gewissenlosen Menschen die Macht, sich höher und besser zu dünken als wir, und doch unser – Henker zu sein!
    Es sind nur Andeutungen, die ich hier gebe. Wie alles Bisherige, so kann auch dieses einstweilen nur Skizze sein. Aber ich fühle das Bedürfnis, das, was andere Böses an mir taten, für meine Mitmenschen in Gutes zu verwandeln. Ich werde es denjenigen, die gleiches Schicksal wie ich hatten, ermöglichen, aus der unmenschlichen Hetze gegen mich diejenigen Schlüsse zu ziehen, die ihnen heilsam sind. Was nützt alle sogenannte ‚Gerechtigkeit‘, alle sogenannte ‚Milde des Gerichts‘, alle sogenannte ‚Humanisierung des Strafvollzugs‘, alle sogenannte ‚Fürsorge für entlassene Strafgefangene‘, wenn es nur eines einzigen spitzfindigen Anwalts oder eines einzigen fragwürdigen Paragraphen bedarf, um all das Gute, welches aus diesen Bestrebungen erwuchs, in einem einzigen Augenblick zu vernichten? Wie kann man von dem Gefallenen verlangen, daß er wieder aufstehe und sich bessere, wenn man es unterläßt, auch die Verhältnisse, in die man ihn zurückversetzt, zu verbessern? Ist es eine Ermunterung für ihn, zu wissen, daß er trotz aller Besserung doch, so lange er lebt, der Geächtete, der Unterdrückte, der Rechtlose bleiben muß und bleiben wird, weil er gezwungen ist, zu allem zu schweigen und sich alles gefallen zu lassen? Denn falls er das nicht tut, ist er verloren. Wenn er hingeht, um gegen die, welche ihn beleidigen, bestehlen und betrügen, sein gutes Recht zu suchen, schleppt man seine alten Akten herbei und stellt ihn an den Pranger. Ich erinnere daran, daß ich von einem Dresdener Staatsanwalt sogar aus nur rein ‚wissenschaftlichen‘ Gründen an diesen Pranger genagelt worden bin, bei lebendigem Leib! Er konnte nicht einmal meinen Tod abwarten und behauptete, durch einen Gesetzesparagaphen zu dieser Vivisektion berechtigt worden zu sein. Da schaut man denen, die von Humanität sprechen, ganz unwillkürlich in das Gesicht, ob sich da nicht etwa ein sardonisches Lächeln zeigt, welches verrät, wie es eigentlich steht. Und da fühlt man mit den Hunderttausenden, die hierunter leiden, das brennende Bedürfnis, einmal alle die Paragraphen, an denen der gute Wille der Menschheit scheitert, an das Tageslicht zu ziehen und dahin zu stellen, wo sie stehen müssen, um durchschaut zu werden – vor die Öffentlichkeit, vor den Reichstag!
    Hier liegt der Punkt, an dem meine Aufgabe anzusetzen hat. Es hat schon einige gegeben, die als ‚entlassene Gefangene‘ ihre Erfahrungen niedergeschrieben haben; aber was man da erfuhr, das war so unbedeutend, daß es der Allgemeinheit keinen Nutzen bringen konnte. Hier genügt es nicht, kleine Menschengeschicke zu zeigen, sondern schwere, gewichtige Menschenschicksale,
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