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74 - Mein Leben und Streben

74 - Mein Leben und Streben

Titel: 74 - Mein Leben und Streben
Autoren: Karl May
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wie ich möchte. Zehn Jahre lang täglich viermal ganze Stöße von Briefen und Zeitungen erhalten, die von Gift und Hohn und Schadenfreude überfließen, das hält kein Simson und kein Herkules aus. Geist und Seele sind stark geblieben. Es hat sich in mir nicht das geringste geändert. Mein Gottvertrauen und meine Menschenliebe sind nicht ins Wanken gekommen. Aber meinen Körper, den früher so unverwüstlich scheinenden, hat es endlich doch gepackt. Er will zusammenbrechen. Seit einem Jahr ist mir der natürliche Schlaf versagt. Will ich einmal einige Stunden ruhen, so muß ich zu künstlichen Mitteln, zu Schlafpulvern greifen, die nur betäuben, nicht aber unschädlich wirken. Auch essen kann ich nicht. Täglich nur einige Bissen, zu denen meine arme, gute Frau mich zwingt. Dafür aber Schmerzen, unaufhörliche, fürchterliche Nervenschmerzen, die des Nachts mich emporzerren und am Tag mir die Feder hundertmal aus der Hand reißen! Mir ist, als müsse ich ohne Unterlaß brüllen, um Hilfe schreien. Ich kann nicht liegen, nicht sitzen, nicht gehen und nicht stehen, und doch muß ich das alles. Ich möchte am liebsten sterben, sterben, sterben, und doch will ich das nicht und darf ich das nicht, weil meine Zeit noch nicht zu Ende ist. Ich muß meine Aufgabe lösen.
    Meine Aufgabe? Ja, meine Aufgabe! Die habe ich endlich, endlich erkannt. Sie ist genau dieselbe, wie ich dachte, und aber doch eine ganz, ganz andere. Ich sagte bereits: Das Karl-May-Problem ist, wie das Problem jedes andern Sterblichen, ein Menschheitsproblem im einzelnen. Aber während die meisten Menschen nur dazu berufen sind, in ihrem kleinen, engen Kreis gewisse Phasen des großen Problems darzustellen, gibt es noch andere, denen die schwere Aufgabe wird, ein Abbild desselben zwar auch nur im kleinen, aber doch nicht im einzelnen, sondern im ganzen zu liefern. Die vielen stellen Menschheitsteile, diese wenigen aber stellen Menschheitsbilder dar. Die vielen können ihren engen Kreis sauberhalten; sie sind Dutzendmenschen; sie können sogar als Mustermenschen erscheinen. Den wenigen aber ist die Tugend und die Sünde, die Reinheit und der Schmutz der ganzen Menschheit in gleichem Verhältnis wie dieser zugeteilt; sie können berühmte Feldherren oder rohe Mörder, große Diplomaten oder berüchtigte Schwindler, segensreiche Finanzgenies oder niedrige Taschendiebe, niemals aber Mustermenschen werden. Ihnen ist nicht das wohltuende Glück der unbewußten Mittelmäßigkeit beschieden. Ist das Leben mächtiger als sie, so werden sie zwischen Jugend und Laster, zwischen Höhe und Tiefe, zwischen Jubel und Verzweiflung hin- und hergezerrt, bis sie über den Wolken zerstäuben oder in den Schluchten zerschellen. Sind sie stärker als das Leben und sind sie im Glück geboren, so werden sie in stolzer Ruhe ihre leuchtenden Bahnen ziehen; kamen sie aber unter den Augen der Niedrigkeit, der Armut und der Not zur Welt, so werden sie zwar ihr Ziel erreichen, weil sie es erreichen müssen, aber der Widerstand, den sie zu überwinden haben, wird ein grausamer, ein unerbittlicher sein, und ehe sie, da oben angekommen, ihren Siegesruf erschallen lassen können, werden sie ermattet zusammenbrechen, um die Augen für diese Welt zu schließen.
    Eigentlich sollte ein jeder wissen, zu welcher von diesen Menschenarten er gehört, oder er sollte sich doch wenigstens verpflichtet fühlen, hierüber nachzudenken. Das habe ich getan, und ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß ich kein billiges, ungestörtes Durchschnittsglück zu beanspruchen hatte, sondern das Menschheitselend in seinen tiefsten Tiefen kennenlernen mußte, um mich ebenso beharrlich und ebenso mühevoll aus ihm emporzuarbeiten, wie die Menschheit Ströme von Schweiß und Blut und die Zeit von Jahrtausenden braucht, sich aus dem ihrigen zu erheben. Ebenso bin ich überzeugt, daß es mir beschieden war, dabei den hartnäckigen Widerstand zu finden, der sich mir auch heute noch entgegenstellt, und daß ich mich nicht über ihn beschweren darf, weil ich ihn mir ebenso selbst bereitet habe, wie die Menschheit schneller vorwärtskommen würde, wenn sie endlich aufhören wollte, sich ihren eigenen Weg mit Hindernissen zu belegen. Man sieht, daß ich keinen anderen, als nur mich selbst anklage.
    Habe ich in diesem Buch einmal zu hart oder scharf gesprochen, bin ich unbillig oder unfügsam gewesen, so war dies keineswegs beabsichtigt oder gewollt, sondern die immer noch nicht ganz überwundene Anima ist es gewesen,
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