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72 Tage in der Hoelle

72 Tage in der Hoelle

Titel: 72 Tage in der Hoelle
Autoren: Nando Parrado , Vince Rause , Sebastian Vogel
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allerwenigsten ich – hat vergessen, was er für uns getan hat. Wie Javier, so glaubt auch Fito ganz fest daran, dass wir durch Gottes persönliches Eingreifen gerettet wurden und dass wir uns im Leben als Seine Boten verstehen sollten. Manchmal habe ich den Eindruck, dass Fito mein Lebenswandel ein Dorn im Auge war, dass es ihn störte, wie ich Gottes Rolle bei unserer Rettung herunterspielte oder sogar leugnete und mich hinterher nicht an die spirituellen Lehren aus dem Martyrium hielt. Dann sage ich ihm, dass ich nicht genau weiß, wie ich Gottes Botschaft verbreiten soll, weil mir nicht klar ist, wie diese Botschaft lautet. Fito würde vielleicht sagen: Die Lehre aus unseren Erlebnissen in den Anden lautet, dass Gott uns gerettet hat, weil Er uns liebt. Aber erstreckte Seine Liebe sich nicht auf meine Mutter, Susy und die neunundzwanzig anderen, die ums Leben kamen? Die Erlebnisse in den Anden haben mich tief greifend verändert. Ich habe seither eine spirituellere Einstellung zum Leben als früher, aber für mich lautet die Lehre der Berge: Leben ist kostbar, man sollte es von ganzem Herzen genießen und mit Liebe ausfüllen. Ich möchte mein Leben nicht über das definieren, was mir vor dreißig Jahren zugestoßen ist. Ich habe den Eindruck, dass ich das Drehbuch meines eigenen Lebens jeden Tag neu schreibe. Das bedeutet für mich nicht, dass ich die spirituellen Lehren von damals leugnen würde, sondern dass ich sie in vollem Umfang umsetze.
    In dieser Frage werden Fito und ich wahrscheinlich nie auf einen Nenner kommen, doch tut das unserer Freundschaft keinen Abbruch. Jedes Mal, wenn wir uns sehen, umarmen wir uns wie Brüder. Fito wohnt auf dem Land, wo er einen kleinen Rinderzuchtbetrieb besitzt und leitet. Mit seiner Frau Paula hat er drei Kinder.
    Sergio Catalan, der chilenische Bauer, der Roberto und mich im Gebirge als Erster sah und mit seinem schnellen Handeln entscheidend zu unserer Rettung sowie zur Bergung der vierzehn anderen beitrug, ist genau genommen kein Überlebender. Aber auch er gehört zu uns.Wir haben den Kontakt zu ihm über all die Jahre hinweg aufrechterhalten, haben ihn in seinem Dorf in Chile besucht oder ihn mit dem Flugzeug nach Montevideo kommen lassen, um uns mit ihm zu treffen. Er ist immer noch der bescheidene, sanftmütige und unglaublich würdevolle Mann, der sich zehn Stunden aufs Pferd setzte, um die Retter zu uns nach Los Maitenes zu bringen. Er führt ein einfaches Leben, verbringt viele Wochen mit seinem Hund als einziger Gesellschaft auf den Hochalmen und versorgt dort seine Rinder und Schafe. Sergio und seine Frau haben neun Kinder großgezogen, und mich beeindruckt es ungeheuer, dass es ihm mit den geringen Mitteln eines Bergbauern gelungen ist, die meisten von ihnen auf die höhere Schule zu schicken. Sie alle sind heute glücklich verheiratet und beruflich in sicheren Positionen.
    Im März 2005 rief Sergios Frau mich an und lud uns zu ihrer goldenen Hochzeit ein. Dabei erklärte sie, es solle für Sergio eine Überraschung sein. Sie wollte ihm vorher nicht sagen, dass wir kamen. Wir sagten zu, und einen Tag bevor die Feier beginnen sollte fuhren Roberto, Gustavo und ich mit unseren Familien die schmale, steinige Straße zu Robertos Dorf hinauf.Während wir ständig an Höhe gewannen, erhob sich rund um uns das zerklüftete, kargeVorgebirge der Anden, und plötzlich zeigte jemand auf einen Mann auf einem Pferd. Er trug die traditionelle Tracht der chilenischen Rinderhirten: kurz geschnittene Jacke, spitze Stiefel, breitkrempiger Hut.
    »Das ist Sergio!«, sagte jemand.
    Wir überholten ihn und hielten an. Roberto, Gustavo und ich stiegen aus den Autos und gingen auf den Reiter zu. Genau wie bei unserem ersten Zusammentreffen war er anfangs misstrauisch, aber als er Roberto und mich erkannte, weiteten sich seine Augen und füllten sich mit Tränen. Bevor er etwas sagen konnte, trat ich vor. »Entschuldigen Sie, guter Mann«, sagte ich, »aber wir haben uns wieder verirrt. Können Sie uns noch einmal helfen?«
     
     
    Wenn ich mit den anderen Überlebenden zusammen bin, teilen wir uns ohne Worte mit, was es über die Zeit in den Bergen zu sagen gibt. Über viele Jahre hinweg reichte mir die Gewissheit, dass diese Freunde und meine engsten Angehörigen wussten, was ich durchgemacht hatte. Ich hatte keine Lust, meine persönliche Geschichte irgendjemandem außerhalb dieses Kreises zu erzählen. Ich gab Zeitschriften und Zeitungen zwar Interviews und wirkte auch an
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