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72 Tage in der Hoelle

72 Tage in der Hoelle

Titel: 72 Tage in der Hoelle
Autoren: Nando Parrado , Vince Rause , Sebastian Vogel
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wie Säure. Ich spürte die Schmerzen in jeder Körperzelle, und als ich in ihrem Griff krampfartig bibberte, schien jeder Augenblick eine Ewigkeit zu dauern.
    Da ich auf dem zugigen Boden des Flugzeugs lag, hatte ich keine Möglichkeit, mich zu wärmen. Aber die Kälte war nicht meine einzige Sorge. Im Kopf spürte ich einen pochenden Schmerz, ein grobes, ungestümes Hämmern, als sei in meinem Schädel ein wildes Tier eingesperrt, das verzweifelt ausbrechen wollte. Vorsichtig griff ich mir oben an den Kopf. Meine Haare waren mit Klumpen aus getrocknetem Blut verklebt, und ungefähr zehn Zentimeter über dem rechten Ohr bildeten drei blutende Wunden ein unregelmäßiges Dreieck. Unter dem geronnenen Blut ertastete ich die rauen Kanten gebrochener Knochen, und wenn ich ein wenig drückte, spürte ich ein schwammiges Nachgeben. Als mit klar wurde, was das bedeutete, drehte sich mir der Magen um – ich hatte Stücke meines zerschmetterten Schädels gegen mein Gehirn gedrückt. Mein Herz hämmerte gegen den Brustkorb. Der Atem kam in flachen Stößen. Ich war dicht davor, in Panik zu geraten, da sah ich über mir diese braunen Augen, und endlich erkannte ich das Gesicht meines Freundes Roberto Canessa.
    »Was ist passiert?«, fragte ich. »Wo sind wir?«
    Roberto runzelte die Stirn und beugte sich herunter, um die Verletzungen an meinem Kopf zu untersuchen. Er war immer ein ernsthafter Mensch gewesen, willensstark und leidenschaftlich. Als ich ihm in die Augen sah, erkannte ich die ganze Hartnäckigkeit und Zuversicht, für die er bekannt war. Aber da war auch etwas Neues in seinem Gesichtsausdruck, etwas Düsteres, Beunruhigendes, das ich zuvor noch nie gesehen hatte. Es war der hektische Blick eines Mannes, der sich darum bemüht, etwas Unbegreifliches zu begreifen, eines Menschen, den eine überwältigende Überraschung taumeln lässt.
    »Du warst drei Tage bewusstlos«, sagte er ohne jedes Gefühl in der Stimme. »Wir hatten dich schon aufgegeben.«
    Die Worte erschienen mir sinnlos. »Was ist mit mir passiert?«, fragte ich, »und warum ist es so kalt?«
    »Verstehst du mich, Nando?«, erwiderte Roberto. »Wir sind im Gebirge abgestürzt. Das Flugzeug ist abgestürzt. Wir sitzen hier fest.«
    Voller Verwirrung schüttelte ich schwach den Kopf.Vielleicht wollte ich es nicht wahrhaben, aber ich konnte nicht mehr lange leugnen, was um mich herum geschah. Ich hörte leises Stöhnen und jähe Schmerzensschreie, und allmählich begriff ich, dass sie von anderen leidenden Menschen kamen. Überall im Rumpf sah ich Verwundete in provisorischen Betten und Hängematten liegen. Andere Gestalten beugten sich über sie, um ihnen zu helfen, und sie unterhielten sich leise, während sie sich mit stiller Zielstrebigkeit in der Kabine hin und her bewegten. Zum ersten Mal fiel mir auf, dass mein Hemd vorne von einer feuchten braunen Kruste überzogen war. Als ich sie mit der Fingerspitze berührte, fühlte sie sich klebrig und körnig an, und mir wurde klar, dass dieses entsetzliche Zeug mein eigenes Blut war, das jetzt trocknete.
    »Verstehst du, Nando?«, fragte Roberto noch einmal. »Erinnerst du dich? Wir waren im Flugzeug... wollten nach Chile...« Ich schloss die Augen und nickte. Jetzt war ich aus dem Schatten getreten. Meine Verwirrung konnte mich nicht mehr von der Wahrheit abschirmen. Ich begriff, und während Roberto mir das verkrustete Blut vom Gesicht wusch, kam meine Erinnerung wieder.

1
     
    Davor
     
    Es war Freitag, der 13. Oktober. Wir machten Witze darüber, dass wir an einem solchen Unglückstag über die Anden fliegen wollten, aber junge Männer sind mit derartigen Scherzen schnell bei der Hand. Unser Flug hatte einen Tag zuvor in meiner Heimatstadt Montevideo begonnen – mit Ziel Santiago de Chile. Die gecharterte zweimotorige Fairchild-Turbopropmaschine sollte meine Rugbymannschaft – den Old Christians Rugby Club – zu einem Freundschaftsspiel gegen eine chilenische Spitzenmannschaft bringen. An Bord waren 45 Personen, darunter vier Besatzungsmitglieder: Pilot, Copilot, Flugingenieur und Steward. Die meisten Passagiere waren Mannschaftskameraden von mir, aber mit uns flogen auch Freunde, Angehörige und andere Anhänger unseres Teams, darunter meine Mutter Eugenia und Susy, meine kleine Schwester; die beiden saßen eine Reihe vor mir auf der anderen Seite des Mittelganges. Ursprünglich war vorgesehen, nonstop nach Santiago zu fliegen, eine Strecke von etwa dreieinhalb Stunden. Aber schon kurz nach dem
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