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72 Tage in der Hoelle

72 Tage in der Hoelle

Titel: 72 Tage in der Hoelle
Autoren: Nando Parrado , Vince Rause , Sebastian Vogel
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bleiben. Als ich an dem Vortrag arbeitete und mir Mühe gab, aus Elend und Trauer die motivierenden Brocken zu destillieren, mit denen völlig fremde Zuhörer ihre Bilanzen verbessern konnten, bereute ich zutiefst meine Entscheidung, den Vortrag überhaupt zu halten. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Schließlich war es so weit, und ich stand in Mexico City auf einem Podium, die Scheinwerfer waren auf mich gerichtet, und vor mir lag das Manuskript mit meinen Vortragsnotizen. Man hatte mich vorgestellt, der Höflichkeitsapplaus war zu Ende, und ich sollte beginnen. Ich wollte sprechen, doch so viel Mühe ich mir auch gab, die Worte kamen einfach nicht. Das Herz schlug mir bis zum Hals, kalter Schweiß lief mir in den Hemdkragen, und meine Hände zitterten. Ich starrte auf mein Manuskript. Es war sinnlos. Ich schob die Papiere hin und her. Die Zuhörer rutschten auf ihren Stühlen hin und her. Schließlich wurde die Stille so laut, dass sie sich wie Donner anhörte, und gerade als die Panik mich zu überwältigen drohte, hörte ich mich sprechen.
    »Eigentlich dürfte ich nicht hier sein«, sagte ich wie aus dem Nichts. »Eigentlich müsste ich tot auf einem Gletscher in den Anden liegen.«
    Dann war es, als hätte sich ein Schleusentor geöffnet: Ich breitete meine Geschichte aus, sparte nicht mit Gefühlen und hielt nichts zurück. Ich sprach einfach aus dem Herzen und ging mit dem Publikum alle wichtigen Augenblicke der Katastrophe durch, sodass sie es genauso erlebten wie ich damals: die unbändige Trauer, als Susy gestorben war, den Schrecken, als wir hörten, dass die Suche eingestellt wurde, das Grausen, als wir das Fleisch unserer toten Freunde kauten. Ich nahm sie in der Lawinennacht und den folgenden schrecklichen Tagen mit in den Flugzeugrumpf. Ich führte sie auf den Berg und zeigte ihnen den verheerenden Blick vom Gipfel, dann nahm ich sie mit mir und Roberto mit auf die Wanderung, die uns nach unserer eigenen Überzeugung in den Tod führen würde. Über Kreativität, Teamwork oder Problemlösungen verlor ich kein Wort. Der Begriff Erfolg kam kein einziges Mal vor. Stattdessen teilte ich ihnen mit, dass ich plötzlich erkannt hatte, was die wahre Lehre aus meinem Martyrium war: Gerettet hatte uns weder Klugheit noch Mut noch Sachverstand, sondern ausschließlich die Liebe – Liebe zueinander, zu unseren Familien, zu dem Leben, an dem wir so verzweifelt hingen. Unser Leiden in den Anden hatte alles Triviale und Unwichtige weggefegt. Jeder Einzelne von uns erkannte mit einer Klarheit, die sich kaum beschreiben lässt, was das einzig Entscheidende im Leben ist: zu lieben und geliebt zu werden.Wir hatten bereits alles, was wir brauchten. Das werden wir sechzehn, die wir das Glück hatten, in unser altes Leben zurückzukehren, nie vergessen. Niemand sollte es vergessen.
    Ich sprach mehr als neunzig Minuten, aber es kam mir vor, als wären es nur fünf gewesen. Als ich geendet hatte, lag tiefes Schweigen über dem Saal. Einige Sekunden lang bewegte sich niemand, dann schwoll der Applaus an, und das Publikum erhob sich von den Sitzen. Hinterher kamen Fremde mit Tränen in den Augen zu mir und umarmten mich. Einige nahmen mich beiseite und berichteten, welche Entbehrungen sie selbst in ihrem Leben ausgehalten hatten, Erkrankungen, den Tod geliebter Menschen, Scheidungen, Suchtkrankheiten. Zu diesen Menschen spürte ich eine machtvolle Verbindung. Sie hatten meine Geschichte nicht einfach nur verstanden; sie machten sie zu ihrer eigenen. Das erfüllte mich mit einem überwältigenden Gefühl von Frieden und Aufbruch, und auch wenn ich diese Gefühle damals noch nicht völlig begriff, wusste ich genau, dass ich sie noch einmal erleben wollte.
    Nach dem erfolgreichen Vortrag in Mexico City kamen Anfragen für Vorträge auf der ganzen Welt, aber meine Töchter waren noch klein, und ich hatte vielfältige geschäftliche Verpflichtungen, sodass ich nur wenige Einladungen annehmen konnte. Als ich nach einigen Jahren mehr Zeit hatte, sprach ich häufiger vor Publikum. Heute wende ich mich an Zuhörer auf der ganzen Welt, auch wenn meine Aufgaben in der Heimat mich nach wie vor zwingen, sehr genau auszuwählen. Aber immer erzähle ich wie beim ersten Mal einfach meine Geschichte und gebe die simple Weisheit weiter, die ich dabei gelernt habe. Das Ergebnis ist immer das Gleiche: eine Welle der Wärme, Dankbarkeit und ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl. Einmal bat mich eine junge Frau nach einem Vortrag um ein
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