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71 - Der Weg zum Glück 06 - Das Gottesurteil

71 - Der Weg zum Glück 06 - Das Gottesurteil

Titel: 71 - Der Weg zum Glück 06 - Das Gottesurteil
Autoren: Karl May
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Augen strahlte so wahr und aufrichtig das Gefühl, welches seine ganze Seele erfüllte, daß Leni, was ihr wohl noch nie passiert war, sich wirklich tief verlegen fühlte. Sie antwortete mit leise vibrierender Stimme:
    „Ich weiß ja nicht, welche Sie singen.“
    „Nun, die bekannten Kompositionen unserer beliebten Liederkomponisten, Schubert, Mendelssohn, Kücken, Abt und andere.“
    „Haben Sie darunter ein Lieblingslied?“
    „Warum fragen Sie so?“
    „Weil ich dieses hören möchte.“
    „Leider gibt es kein besonderes, welches ich bevorzuge. Aber – ich kenne eins, welches ich am liebsten wählen würde, weil – weil – weil ich es heut, jetzt, so recht aus vollem Herzen singen könnte.“
    „So wählen Sie es, bitte.“
    „Wohl, ich werde es wählen. Aber ich singe es nicht um der anderen willen, sondern ich singe es nur für Sie, für Sie allein. Ihnen gelten die Worte, und Sie sollen mir dann sagen, ob Sie meinen einfachen Vortrag mit einem milden Urteil belegen werden.“
    Gerade jetzt war ein Tanz zu Ende gegangen. Der Graf begab sich zu dem Pianisten, nannte ihm das Lied und erfuhr von ihm, daß er es ohne Noten begleiten könne. Als dann beide an das Instrument traten, ging ein allgemeines „Ah!“ des Erstaunens durch den Saal.
    „Der Graf will singen, der Graf!“ hieß es. „Er hat sich soeben längere Zeit mit der Signora unterhalten. Sie hat ihn also doch so weit gebracht. Die Glückliche!“
    Man nahm erwartungsvoll Platz. Leni blieb stehen, wo sie sich befand. Ihr Herz klopfte heftig. Er wollte nur für sie singen! Ihr sollten die Worte des Liedes gelten! Welches würde es sein?
    Sie griff unwillkürlich mit beiden Händen nach ihrer Brust, als er am Schluß des Vorspieles begann:
    „Ich sah dich nur ein einzig Mal,
Da war's um mich geschehen.
Ich fühlte deines Auges Strahl
Durch meine Seele gehen.
Ich fühlte deiner Stimme Laut
Mich wunderbar durchringen.
Dein Blick so süß, dein Wort so traut
Erwecken neu mein Singen.“
    Der Graf hatte leise begonnen. Seine Stimme zitterte ein wenig, man hörte es. Er hatte noch nie in solcher Gesellschaft gesungen und war in Wirklichkeit schüchtern. Aber nach und nach wurde seine Stimme fester und sicherer. Sie erhob sich zu ihrer vollen Stärke, und nun hörte man allerdings, daß er einen prächtigen, auch recht gut geschulten Bariton besaß. Das klang so voll und frisch und dabei doch so zart und schmelzend, und in tiefster Innigkeit ertönte die zweite Strophe:
    „Mit dem Gebet: ‚O wärst du mein,
Mir, wie ich dir, ergeben!‘
Senkt ich in deines Auges Schein
Mein ganzes Sein und Leben.
Ich lauschte deines Wortes klang,
Und die mich flohn, die Lieder,
Sie kehrten, wie mit holdem Sang
Im Lenz die Lerchen, wieder.“
    Ja, so war es! Die Liebe zu Leni hatte ihn zum Singen gebracht, diese Liebe ganz allein. Sie fühlte, daß dieses Geständnis an sie gerichtet war. Sie hatte bemerkt, daß es von seinen Augen gesehen worden war, als sie mit den Händen nach dem Herzen griff. Sie wurde bald blaß und bald rot. Ihn aber erfüllte es mit Jubel und laut erklang die letzte Strophe:
    „Dein Blick so süß, dein Wort so traut
Erweckten neu mein Singen.
Ich fühlte deiner Stimme Laut
Mich wunderbar durchdringen.
Ich fühlte deines Auges Strahl
Durch meine Seele gehen;
Ich sah dich nur ein einzig Mal,
Da war's um mich geschehen!“
    Man hatte gewußt, daß der Graf singen könne, aber er hatte alle Erwartungen weit übertroffen. Man überschüttete ihn mit Glückwünschungen über das Gelingen seines Debüts. Er nahm das ziemlich gleichgültig hin. Von den Herren und Damen umringt, suchte er mit sehnendem Blick die Sängerin. Sie befand sich nicht mehr im Saal.
    Sie war in den Empfangssalon geschlüpft und stand dort hinter den Gardinen am Fenster. Ihr Busen wogte, ihr Herz klopfte so stürmisch. Was war mit ihr geschehen?
    Hatte sie nicht bisher den Krickel-Anton geliebt? Hatte sie sich nicht elend gefühlt, da er für sie verloren war? Und heute hatte sie erkennen müssen, daß er ihrer Liebe nicht wert sei und daß ihre Lebenswege sich in Zukunft niemals wieder berühren könnten?
    Hätte sie durch diese Erkenntnis nicht eigentlich niedergeschmettert werden müssen? Hätte sie nicht darüber weinen müssen, weinen immerfort? Gewiß!
    Und nun? Weinte sie? Nein. Fühlte sie sich unglücklich? Abermals nein. Es war im Gegenteil in ihr die Empfindung erwacht, als ob sie neugeboren sei, als ob sie erst heute zu leben beginne. Die ganze schwere,
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