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71 - Der Weg zum Glück 06 - Das Gottesurteil

71 - Der Weg zum Glück 06 - Das Gottesurteil

Titel: 71 - Der Weg zum Glück 06 - Das Gottesurteil
Autoren: Karl May
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trübe Vergangenheit war versunken und vor ihr flammte eine Helle auf, in welche sie nicht zu blicken wagte. Sie fürchtete, geblendet zu werden.
    Sie wußte, daß der Graf jetzt kommen werde, um sein Urteil zu empfangen. Sie zitterte bei diesem Gedanken. Aller Augen mußten es bemerken, wie auffällig er sie bevorzuge. Wenn er doch nicht käme! Und doch sehnte sie sich, ihn zu sehen, ihn zu hören und ihm zu sagen, daß –
    Was denn? Was wollte sie ihm sagen? Sie wußte es und wußte es doch nicht.
    „Herrgott führe es zum guten Ende!“ flüsterte sie. „Gib mir die Kraft, mich dagegen zu wehren! Wie darf ich so etwas nur denken!“
    Drin im Saal begann die Tanzmusik wieder. Die Gäste waren also mit sich selbst beschäftigt, und das benutzte der Graf jedenfalls, Leni unauffällig aufzusuchen. Es bemächtigte sich ihrer ein Gefühl, welches sie Angst hätte nennen mögen. Und da war er auch schon. Sie hörte seinen Schritt. Er suchte sie. Er sah sie und trat zum Fenster.
    „Signora!“
    Sie tat, als ob sie es nicht gehört habe. Sie glich dem Strauß, welcher vergebens seinen Kopf versteckt, um sich zu retten. Er wird ja doch vom Jäger gesehen und – erlegt.
    „Signora! So gedankenvoll?“
    Jetzt konnte sie nicht anders. Sie mußte sich ihm zudrehen. Ihr Gesicht war leichenblaß und ihre dunklen Augen schauten fast angstvoll auf ihn. Er sah es und trat einen Schritt zurück.
    „Sie zürnen mir?“ fragte er.
    Sie antwortete nicht. Sie hätte jetzt keinen Laut hören lassen können.
    „Bitte, sagen Sie mir aufrichtig, daß Sie mir zürnen. Soll ich gehen? Soll ich Sie verlassen?“
    Sie konnte nicht reden. Sie wollte ja sagen, und da sie nicht einmal dieses Wörtchen hervorbrachte, wollte sie nicken, daß er gehen solle. Aber – wie kam es doch nur, daß sie nicht nickte, sondern schüttelte?
    „Ich darf bleiben? Gott sei Dank!“ sagte er, tief und erleichtert aufatmend. „Sie haben mein Lied gehört und verstanden?“
    Jetzt nickte sie.
    „Und verurteilen mich nicht, daß ich gerade dieses und kein anderes gewählt habe?“
    „Nein“, hauchte sie.
    „Dann will ich auch meine Bedingung erfüllt haben. Ich wage es.“
    Er ergriff ihre Hand, zog dieselbe an seine Lippen und flüsterte dann, seinen Blick tief in ihre Augen senkend:
    „Leni, Leni, ich habe nicht geahnt, welcher Seligkeiten das Menschenherz fähig ist. Ich sah dich nur ein einzig Mal, da war's um mich geschehen. Weiter kann, will und darf ich heute nichts sagen. Der Allgütige möge es nach seinem Wohlgefallen lenken!“
    Da trat der Sepp herein. Als er die beiden Hand in Hand dastehen sah, zuckte es vergnügt über sein altes, gutes Gesicht, doch tat er, als ob er nichts gesehen hätte. Der Graf trat schnell von Leni zurück.
    „Ich muß doch auch kommen, um mich bei ihnen zu bedanken“, sagte der Sepp zu ihm. „Sie haben mir mit dem Lied eine sehr große Freude bereitet. Wie sind Sie denn gerade auf dieses gekommen?“
    „Es ist – mein Lieblingslied“, antwortete der Graf, einen lachenden Blick auf Leni werfend.
    „So! Das ist sehr schön, denn gerade dieses Lied habe ich mir gar wohl gemerkt und werde es auch niemals vergessen.“
    „Ist es einmal für Sie von Bedeutung gewesen?“
    „Allerdings. Es ist das erste Lied gewesen, welche da meine Leni öffentlich gesungen hat, und der König war dabei.“
    „Ach, Signora, so war es ihnen also bekannt?“
    „Ja“, antwortete sie. „Ich werde jenes Abends stets gedenken. Er hat über meine Zukunft entschieden.“
    „Wirklich? Für immer?“
    „Für immer“, nickte sie.
    Ein Schatten flog über sein Gesicht, und seine Stimme klang bittend und ernst:
    „Man glaubt zuweilen, daß ein Ereignis bestimmend für das ganze Leben sei, das ist wahr; aber es treten dann später noch andere Ereignisse ein, durch welche diese erstere Wirkung aufgehoben wird. Kann das nicht auch bei Ihnen der Fall sein?“
    „Ich glaube nicht. Jener Abend hat entschieden, daß ich Sängerin sein werde. Mein König hat es gewünscht, und ich habe ihm gehorcht, obgleich ich damals lieber noch die Frau eines armen Wildschützen geworden wäre, den ich zu lieben glaubte. Ich werde dem König mein Wort halten.“
    Diese Antwort fiel wie kaltes Wasser in die Glut seines Herzens. Aber die Worte ‚den ich zu lieben glaubte‘ berührten ihn wunderbar freudig. Er, der Graf, ein Nachfolger eines Wildschützen bei einer früheren Sennerin! Dieser Gedanke hätte eigentlich erkältend wirken sollen, aber der
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