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71 - Der Weg zum Glück 06 - Das Gottesurteil

71 - Der Weg zum Glück 06 - Das Gottesurteil

Titel: 71 - Der Weg zum Glück 06 - Das Gottesurteil
Autoren: Karl May
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Lösung war ihm auf das beste gelungen. Die innig miteinander verbundenen Töne glichen harmonischen Tropfen, welche vom Himmel tauen, wenn nach einem heißen, sengenden Tag die Sonne hinter Wolken verglüht ist und dann der gütige Abend der Erde das erquickende Naß spendet, welches der verbrannten Flur das Leben wiedergibt.
    Dann tritt der fromme Landmann an das Fenster, lauscht der linden Melodie des tropfenden Segens und faltet die Hände, um aus dankerfülltem Herzen ein Gebet emporzusenden.
    So fromm und gut klangen auch die weichen, herzlichen Töne der Sängerin:
    „Linde legt sich schon der Staub,
Balsamduft umwittert;
Stille hält das durst'ge Land,
Das vor Wonne zittert.
Trunken schlägt die Nachtigall
In Jasmingehegen,
Und vermischt mit Flötenhall
Deiner Tropfen leisen Fall,
Linder Abendregen!
    Oh, wie wehn so feucht und weich
Die verkühlten Lüfte!
Oh, wie wogen würzereich
Nachtviolendüfte!
Was der Dürre sich verschloß,
öffnet sich dem Segen;
Mach aus meines Herzens Schoß
Auch des Dankes Düfte los,
Holder Abendregen!“
    Jetzt modulierte die Begleitung in ein sanftes, klagendes Moll über, denn es gibt auch im Seelenleben des Menschen Tage der Dürre, wo nur ein Tränenregen die Qual lösen, den Schmerz besiegen und das Herz wieder mit Hoffnung erfüllen kann:
    „Sag, was kommt so mildiglich
Gleich wie du geflossen?
Tränen sind es, die in sich
Lang ein Mensch verschlossen.
Aber endlich fühlt sein Herz
Inniges Bewegen;
Tränen fließen niederwärts,
Lösen den verjährten Schmerz
Wie ein Abendregen.
    Rausche, rausche immerfort
In der Abendstille;
Bricht auch schon ein Sternlein dort
Aus der Wolkenhülle,
Und indes wir uns zur Ruh
Leichten Herzens legen,
Säusle vor dem Fenster du,
Sing ein Schlummerlied uns zu,
Milder Abendregen!“
    Diese letzte Strophe war in belebterem Tempo gehalten. Es glänzten ja hier und da wieder Sterne am bisher verhüllten Firmament, und der Abendregen hatte, nachdem die lechzende Erde erquickt war, nur noch die beruhigten Müden in Schlaf zu singen. Die runden, perlenden, zauberhaften Töne der Sängerin schwebten auf den Klängen des Piano wie schwimmende Sterne durch den Raum und verklangen nach und nach so lieb, so mild wie goldene Himmelsaugen, welche sich leise zum Horizont senken, um hinter demselben zur Ruhe zu gehen.
    Das war ein Lied gewesen, wie man noch keines gehört hatte. Es lag etwas so Geheimnisvolles, Rätselhaftes, Unirdisches in dieser Komposition, und grad so unbegreiflich hatte auch Lenis Stimme geklungen, gar nicht, als ob sie aus einer Menschenbrust komme, sondern einem unsichtbaren Wesen entstamme, welches himmlische Melodien atmet.
    Die Zuhörer waren weder zu Tränen gerührt noch zu lautem Frohlocken begeistert; nein, der Eindruck dieses Gesangs war ein ganz, ganz anderer, ein unendlich tieferer. Es war, als sei eine himmlische Daseinsform herabgeschwebt, dem Auge nicht erkennbar und mit keinem Sinn als nur mit dem Gehör zu begreifen. Wenn es wahr ist, was die Gelehrten sagen, daß es eine Musik der Sphären gibt, so mußte das, was man jetzt gehört hatte, jenen unendlichen Räumen entstammen, in denen Sonnen ertönen und Sterne singen.
    Es waren Worte, welche gesungen worden waren, aber man hatte nicht auf diese Worte gehört, sondern auf den unendlich süßen, in ein stilles Entzücken versetzenden Klang der Stimme, für welchen es in der Sprache keine treffende Bezeichnung gab. Es war den Anwesenden, als ob sie im Traum Engelsstimmen vernommen hätten. Sie nahten sich in stiller, wortloser Bewunderung der Sängerin. Man drückte und küßte ihr die Hände und bereitete ihr einen Triumph, welcher zwar wortlos, aber aufrichtig und ergreifend war.
    Auch der Graf sagte nichts. Er sah das herrliche Mädchen umringt von den anderen und schritt vom Piano fort auf den alten Sepp zu, welcher an der erwähnten Tür stand und mit derselben das bereits beschriebene Experiment vorgenommen hatte. Er ergriff dessen Hand und schüttelte sie herzlich.
    „Sie Glücklicher!“ sagte er zu ihm. „Wie sind Sie zu beneiden!“
    „Ich? Weshalb, Graf?“
    „Daß Sie eine solche Pflegetochter besitzen.“
    „Ach, deshalb! Ja, sie ist stets meine größte Freude gewesen und hat mich niemals betrübt.“
    „Wie ist sie denn aus der verborgenen Sennerin eine solche Sängerin geworden?“
    „Der König Ludwig hat sie entdeckt, und dann auf seine Kosten ausbilden lassen.“
    „Er selbst! Ich könnte diesem Monarchen herzlich zürnen, daß nicht ich an
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