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71 - Der Weg zum Glück 06 - Das Gottesurteil

71 - Der Weg zum Glück 06 - Das Gottesurteil

Titel: 71 - Der Weg zum Glück 06 - Das Gottesurteil
Autoren: Karl May
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eine Versammlung geht, wenn sich vor den Augen derselben etwas Ungewöhnliches ereignet.
    Daß der Graf die Sängerin begleitete, war eine Auszeichnung, welche diese beiden einander erteilten. Man wußte, daß der Graf es bei einer anderen nicht getan haben würde; man war aber von Leni überzeugt, daß sie nicht einem jeden diese Erlaubnis gegeben hätte. Und als es sich nun blitzschnell herumflüsterte, daß Graf Senftenberg heut am Nachmittag die Künstlerin gegen eine Frechheit Criquolinis in Schutz genommen habe, war das sympathische Verhalten der beiden gegeneinander erklärt, und man hielt es für ganz begründet, daß ein Mensch wie Criquolini nicht geladen worden sei, sondern ganz einfach als Musikus behandelt werde.
    Es waren leise, lieblich melodierte As-Dur-Klänge, welche unter den Fingern des Grafen entstanden; ebenso leise und mildtönig begann Leni:
    „Behüt dich Gott, geliebtes Kind,
In deinen Locken spielt der Wind;
Das Hündlein wedelt, springt und bellt,
Dein Mut ist frisch und schön die Welt.
Behüt dich Gott!“
    Die Stimme der Sängerin hatte sich erhoben. Sie hatte einen Klang, der gar nicht zu beschreiben war. Bereits diese wenigen Takte rissen das Publikum hin; doch wagte man es nicht, einen Laut, ein Geräusch hören zu lassen. Nur Blicke flogen von Aug zu Aug, als das ‚Behüt dich Gott‘ verklungen war, und diese Blicke waren für die Sängerin eine wenigstens ebenso große Ehre, wie ein lauter Beifall es gewesen sein würde.
    Das schöne Lied Carl Geroks klang weiter:
    „Behüt dich Gott, mein Herz ist schwer.
Ich kann dich hüten nimmermehr,
Doch send ich dir als Engelswach
Geflügelte Gebete nach:
Behüt dich Gott!
    Behüt dich Gott an Leib und Seel
Vor Sünd und Schand, vor Fall und Fehl
Dein kindlich Herz, vom Argen rein,
O hüt es wohl wie Edelstein;
Behüt dich Gott!“
    War das wirklich Gesang, den man hörte? Ja, ein herrlicher, herrlicher Gesang! Und doch war es keiner, sondern es war die Sprache eines von Liebe und Sorge überfließenden Mutterherzens zu dem scheidenden Kind. Da gab es keine gekünstelte Melodie mit Kadenzen, Läufen und Trillern; ja, das schien gar keine Melodie zu sein. Es waren Seelenworte, nicht gesungen, sondern gesprochen, obgleich Text, Begleitung und Stimme eine einzige ergreifende Harmonie bildeten.
    Dann kam der Trost für jeden Scheidenden:
    „Behüt dich Gott, ein starker Hort,
Sein Zepter reicht von Ort zu Ort;
Sein Arm gebeugt, sein Auge schaut
So weit der liebe Himmel blaut.
Behüt dich Gott!
    Behüt dich Gott – und nun zum Schluß
Von Mund zu Mund den letzten Kuß,
Von Herz zu Herz das letzte Wort:
Auf Wiedersehn hier oder dort!
Behüt dich Gott!“
    Leni hatte geendet. Kein einziger Laut des Beifalles erscholl; keine leise Bewegung ließ sich hören, nicht das Rauschen einer Falte oder das Geräusch einer Fußspitze. Eine wirkliche Grabesstille herrschte für einige Augenblicke. Dann aber erhoben sich sämtliche Personen wie auf ein Kommando von ihren Stühlen und eilten auf die Sängerin zu.
    Jeder genierte sich, die gewöhnlichen Beifallsworte wie ‚herrlich, prächtig, o wie schön‘ usw. hören zu lassen. In den Gesichtern strahlte der Applaus in glänzenden Zügen; an den Wimpern hing er in schweren Tropfen. Zehn, zwanzig, noch mehr Hände streckten sich Leni entgegen, und der Graf, welcher sich langsam vom Musiksessel erhoben hatte, stand dabei wie ein Träumender. Sein Blick hing wie gebannt an dem schönen, tiefernsten Angesicht der Sängerin. Er fuhr sich mit der Hand über die hohe, weiße Stirn und erinnerte sich fast zu spät daran, daß er sie ja wieder vom Piano zurückzuführen habe.
    Als er ihr den Arm dazu bot, war es noch still im Saal. Man flüsterte nur leise, da alle noch unter dem Eindruck des herrlichen Liedes, der unbeschreiblichen Stimme und des meisterhaften Vortrags standen.
    „Signora“, fragte er mit leiser Stimme, welche hörbar vibrierte, „bitte, sagen Sie mir, ob ich richtig gespielt habe!“
    „Gewiß. Sie haben mich sogar unübertrefflich begleitet.“
    „Das ist ja gar nicht möglich!“
    „Inwiefern? Sie spielen ja meisterhaft.“
    „Aber ich gestehe Ihnen aufrichtig, daß ich wirklich nicht weiß, was ich gespielt habe. Ich habe nicht auf die Noten gesehen. Mein Auge hat nur Sie erblickt und mein Ohr nur Ihre Stimme gehört. Ich möchte mich wirklich fragen, ob ich überhaupt zu Ihrem Gesang gespielt habe.“
    Sie antwortete nicht. Sie senkte den Blick und über ihr Gesicht glitt ein
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