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62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen

62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen

Titel: 62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen
Autoren: Karl May
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Jugend, meiner Ehre, meines Lebens und meiner Eltern! Das mußte herunter vom Herzen; das mußte ich dir noch sagen! Nun aber werde ich dich nicht mehr belästigen. Schlaf wohl!“
    „Nein, nein! So schlafe ich nicht wieder ein! Gustel, du mußt mir versprechen, von diesem Gedanken zu lassen!“
    „Kann ich, wenn der Gedanke nicht von mir läßt?“
    „Bete, oh bete: Führe uns nicht in Versuchung!“
    „Vielleicht hast du recht! Es ist ein Teufel, welcher in Gestalt dieses Gedankens mich erfassen will. Ich werde mit ihm ringen. Ich werde bis morgen keine Ruhe mehr finden. Du aber schlafe ruhig. Engelchen! Gute Nacht!“
    „Gute Nacht, du Arme, Arme!“ –
    Kurz nach dem Mittag des verflossenen Tages, also ungefähr um die Zeit, in welcher Fritz Seidelmann mit dem Kaufmann Winkler im Gasthof ‚Zum Grauen Wolf‘ gesessen hatte, ging der Knappschaftsarzt durch das kleine Gebirgsstädtchen. Er trat in ein armseliges Häuschen, stieg eine Treppe empor und öffnete eine Tür, ohne vorher angeklopft zu haben. Ein geradezu dick zu nennender, fürchterlicher Dunst schlug ihm entgegen, so daß er zurückfuhr und nur nach augenblicklicher Überwindung seines Wiederstrebens einzutreten vermochte.
    „Guten Tag“, sagte er.
    „Guten Tag, Herr Doktor! Willkommen!“
    Der das sagte, war ein bleicher, fahlwangiger Mann, welcher an einem Tisch gesessen hatte, auf welchem ein Reißbrett lag. Er stand vom Stuhl auf.
    „Sapperment, Wilhelmi, welche Luft haben Sie hier!“
    Der Mann zuckte traurig die Achseln.
    „Ich kann nichts dafür“, antwortete er.
    „So lüften Sie doch!“
    „Es ist so kalt, Herr Doktor! Und diese da liegen ja im Fieber. Wie darf ich da lüften!“
    Er deutete nach einer Ecke der Stube. Es war ein schauderhafter Anblick, welcher sich dort bot. Auf kurzem Stroh und alten Lumpen lagen da eine Frau und drei Kinder, welche fast gar nicht das Aussehen von Menschen hatten. Ihre Gesichter waren von einer scheußlichen Kruste bedeckt, und ihre Hände und ihre Körper ebenfalls, wie man leicht sehen konnte, da die Glieder nur ganz notdürftig mit alten Kleidungsstücken bedeckt waren.
    In dieser Stube herrschten die Blattern, die bösartigen Menschenpocken!
    „Und doch müssen Sie lüften!“
    „Kalt, kalt!“ rief die kranke Frau.
    „Hören Sie?“ sagte der Mann. „Bitte, schließen Sie die Tür! Die Frau kann den Tod davon haben. Sie liegt im Fieber, und hier zieht es. Die Blattern vertragen solche Kälte nicht!“
    „Feuern Sie doch!“
    Der Mann deutete nach dem Ofen und fragte:
    „Womit?“
    „Mit Holz, Kohlen – mir ganz egal! Aber gefeuert muß natürlich werden.“
    „Herr, Kohlen und Holz kosten Geld.“
    „Nun, Sie verdienen ja Geld!“
    „Ich? Wieviel? Wissen Sie das?“
    Er trat zur Tür und machte sie zu, trotz des mißbilligenden Blicks, den ihm dabei der Arzt zuwarf.
    „Jedenfalls so viel, wie Sie brauchen. Sie sind ja Musterzeichner. Das ist ein lohnendes Geschäft.“
    „Musterzeichner bei der Firma Seidelmann und Sohn. Wissen Sie vielleicht was das heißt?“
    „Sie wollen doch nicht sagen, daß diese beiden Herren ihre Arbeiter nicht bezahlen!“
    „O nein! Sie bezahlen schon, aber wie!“
    „Wieviel verdienen Sie?“
    Der Mann deutete auf das Reißbrett und antwortete:
    „Hier sehen Sie fünf neue Muster. Ich habe sie selbst komponiert und zwei Wochen daran gearbeitet. Herr Seidelmann wird mir für jedes zwei Gulden bezahlen, also zehn Gulden. Aber er wird mit diesen Mustern, welche das Gesetz für ihn schützt, Tausende verdienen!“
    „Zehn Gulden! Das ist doch keine Kleinigkeit!“
    „Keine Kleinigkeit? Herrgott! Pro Woche fünf Gulden, und dabei vier Blatternkranke und noch zwei Esser!“
    Er deutete dabei auf sich und hinter den kalten Ofen, wo auf einem niedrigen Schemel eine alte Frau hockte, die den frierenden Oberkörper in einen zerrissenen, flanellenen Unterrock gewickelt hatte.
    „Ihre Schwiegermutter?“ fragte der Arzt.
    „Ja.“
    „Das sind allerdings sechs Esser. Aber warum arbeiten Sie nicht fleißiger?“
    „Nicht fleißiger? Herr Doktor, ich habe Tag und Nacht gearbeitet. Meine Augen schmerzen. Wenn das so fortgeht, muß ich das Augenlicht verlieren.“
    „Hm! Das sind die gewöhnlichen Klagen! Wie geht es mit den Patienten?“
    „Wie zuvor. Gebessert hat es sich nicht, eher verschlimmert.“
    „Wollen sehen!“
    Er trat zu der Frau und tat, als ob er einen Blick auf sie werfe, während er doch nur einen unüberwindlichen Abscheu
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