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616 - Die Hoelle ist ueberall

Titel: 616 - Die Hoelle ist ueberall
Autoren: David Zurdo
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sei unschuldig, und dabei liefen mir bittere Tränen übers Gesicht. Doch die, die behaupteten, sie seien fromm und gerechte, aufrechte Männer, ließen keine Gnade walten. Die Römer wollten sich dem Urteil des Hohen Rats nicht widersetzen. Ihre Gesetze mussten hinter der politischen Vernunft zurücktreten. Sie zogen die Ordnung der Gerechtigkeit vor. Sie billigten eine unangemessene Bestrafung, gei-ßelten Jesus und ließen sich von den begeisterten Schreien des von Kaiphas und Anas gedungenen Gesindels mitreißen. Das Römische Reich machte sich so klein wie das Herz des Statthalters Pilatus.
    Sie kreuzigten Jesus. Obwohl er ohne Schuld war. Aus Hass und schamlosem Groll.
    Der Himmel ließ die Erde erzittern, als Jesus seinen letzten Atemzug tat. Der Vorhang im Tempel zerriss von oben bis unten bei seinem letzten Schrei: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«
    Ich erschrak im Innersten. Nun hatte Jesus wirklich den Verstand verloren. Wie konnte der Vater ihn verlassen haben, wenn er doch das schreckliche Schicksal erfüllte, dessentwegen er in die Welt geworfen war? Und doch erfüllte ein Zweifel, so furchterregend wie die römischen Legionen, meinen Geist, so schwarz und klebrig wie ein Teerfleck. Ich erinnerte mich an Jesu Worte bei seiner Rückkehr aus der Wüste. Luzifer, der Teufel, hatte ihn dreimal versucht; es waren lächerliche, aussichtslose Versuchungen gewesen. Luzifer hatte behauptet, er herrsche über die Schöpfung, er habe den Krieg im Himmel gewonnen, Gott sei sein Sklave. Er zeigte sich in seiner ganzen Schlechtigkeit, seinem Neid, seinem Groll. Das Schwert der Wahrheit des Erzengels Michael sei vor seinem schrecklichen Metall zersprun-gen. Luzifer wollte Gott ebenbürtig sein, und so vergaß er die Güte, die auch in seiner Natur lag. Er verwandelte sich ins Gegenteil: ins Böse. Das schönste aller Ge-schöpfe wurde durch seine Verderbtheit hässlich und furchteinflößend. Luzifer hatte gesagt, er wolle die Welt vom Joch Gottes befreien. Er selbst habe alle Geschöpfe versklavt. Er habe alle Wesen der Schöpfung bis in alle Ewigkeit in unzerreißbare Ketten gelegt. Sogar die, die nicht davon wussten, die Menschen. Bis zu ihrem Tod, denn der Tod kommt immer. Als Jesus am Kreuz sprach, an dieser trockenen, toten Stange, versenkt in die von den Tränen der Sünder getränkte Erde; als Jesus da schrie und seinen Vater nach dem Grund für seine Verlassenheit in diesem schrecklichsten Augenblick sei-nes Martyriums fragte, da siegte Luzifer erneut, und Gott verlor. Jesus war Gottes letzte Hoffnung gewesen, und auch die seiner Schöpfung mit ihren zahllosen Kre-aturen. Sein Opfer war vergeblich. Sein gesamter Glau-be wurde ausgelöscht, der Wind trug ihn hinfort.
    Jesus verleugnete seinen Glauben. Er zweifelte an seinem Vater. Das Böse herrscht auf der Welt. Es ist das Wesen aller Schöpfung. Satan regiert über Gott. Die Klinge des Erzengels Michael konnte ihn nicht besie-gen. Der Neid überwand die Güte, und das Böse das Gute. So schrecklich ist die Wahrheit.
    Jedenfalls wenn mein plumper alter Kopf die Erinnerung nicht verfälscht oder ich nicht den Verstand verloren habe. Hoffentlich irre ich mich, hoffentlich bin ich verrückt, töricht. Hoffentlich bin ich nur ein elendes Insekt, das nichts weiß und versteht.
     
    Der Aufprall eines Kometen hätte keine größere Verheerung in Cloisters Kopf anrichten können als der Text, den er gera-de gelesen hatte. Sein gesamtes Denken stürzte in einem ra-senden Strudel auf einen bodenlosen Abgrund zu. Sein Kopf wurde ganz leer, und zugleich verknüpften die Fäden sich wie von selbst. Das Resultat würde sein wie glühende Lava, die alles verzehrt, was sich ihr in den Weg stellt.
    Einst gab es Menschen, die glaubten, die Welt sei die Schöpfung eines bösartigen Wesens, ein peinigendes Gefäng-nis für die Menschheit. Ein Ort, an dem die Männer und Frauen, welche die Erde bevölkern, leiden müssen. Nicht alle frühen Christen waren Monotheisten. Einige Gemeinden glaubten an mehrere Götter, manche an mehrere Dutzend, andere hatten sogar dreihundertfünfundsechzig Götter – so viele wie das Jahr Tage hat. Cloister fand seit seiner Zeit im Jesuitenkolleg in Chicago, dass sie einen Gott vergessen hat-ten: den für die Schaltjahre. Er war selbst ein leaper, ein Springer, wie diejenigen heißen, die am 29. Februar geboren sind, und er wusste nur zu gut, was es bedeutet, wenn der eigene Geburtstag immer vergessen wird. Dieser Gott, den
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