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616 - Die Hoelle ist ueberall

Titel: 616 - Die Hoelle ist ueberall
Autoren: David Zurdo
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an die Erhaltung von Kunstgegenständen oder die Bewahrung von geschichtlichen Dokumenten zu denken. In diesem Spiel ging es um viel mehr als um den Wunsch der Menschen nach Schutz ihrer Reliquien.
    Cloister kniff die Augen zusammen, damit er in dem glei-ßenden Licht die zarte Handschrift auf dem Pergament erkennen konnte. Es war Griechisch, die Sprache, die man zu Jesu Zeiten in der gesamten Region gesprochen hatte. Bei den ersten Worten, die er las, während die Sonne an ihrem höchs-ten Punkt am Himmel stand, verfinsterte sich seine Seele. Emerson hatte recht gehabt, »dass unter jeder Tiefe sich noch eine tiefere Tiefe auftut«.
     
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    Judas Ischariot! Der Verräter, die Person, die aus Sicht der modernen Theologie die meisten Fragen aufwarf und am um-strittensten war. Die geopferte Figur in der Schachpartie, die Jesus um die Erlösung der Menschen gespielt hatte, für die er am Kreuz gestorben war. Derjenige, der verdammt worden war im Gegenzug für die Erlösung der Menschheit. Eine Per-son, über die das Päpstliche Komitee für Geschichtswissen-schaft unter Leitung von Walter Brandmüller befunden hatte, sie habe ihre Aufgabe in Gottes Plan erfüllt.
    Aber … Judas hatte sich erhängt. Jedenfalls dem Matthäusevangelium zufolge, dem einzigen der kanonischen Bücher, in dem der Selbstmord des treulosen Apostels erwähnt wird. Allerdings existierte ein apokrypher Text namens Judasevangelium, den der Bischof und heilige Irenäus von Lyon, ein Kirchenva-ter, Ende des zweiten Jahrhunderts erwähnt hatte, und von dem eine Abschrift, die nur sehr wenigen bekannt war, im Geheimarchiv des Vatikans lag. Fragmente davon enthielt auch eine der Öffentlichkeit zugängliche Handschrift, die sich ebenfalls in Rom befand: der Codex Bezae aus dem fünften Jahrhundert. Dieses Werk wurde von einem anderen Kirchenva-ter, dem heiligen Epiphanios, und von Bischof Theodoret von Kyrrhos zitiert. Die National Geographie Society besaß eine weitere Abschrift aus dem vierten Jahrhundert, die man in Ägypten entdeckt hatte. Es war ein gnostischer Text der früh-kirchlichen Sekte der Kainiten, ursprünglich auf Griechisch verfasst und später ins Koptische übersetzt. Dort wird die Figur des Judas als für die Entwicklung des göttlichen Plans positive Figur beschrieben. Doch dieses Evangelium wurde weder vom echten Judas Ischariot noch zu seinen Lebzeiten verfasst, sondern mindestens ein Jahrhundert nach seinem vermeintlichen Selbstmord. In diesem Text ist Judas ein heldenhafter Verteidiger Jesu, sein bester Freund und derjenige unter den Jüngern, den Jesus am meisten liebte und der Jesus auf dessen eigenen Wunsch dem Hohen Rat auslieferte. Und – am wichtigsten – der Einzige, der die Wahrheit kannte …
    Die Wahrheit.
    Doch wenn diese Pergamentrolle tatsächlich eine Schrift von Judas Ischariot war, dann würde sich daran ein weiterer der vielen Fehler des Neuen Testaments zeigen. Wenn der Text echt war und aus der Feder des Judas stammte, dann würden sich viele Überzeugungen als so dauerhaft wie ein Koloss auf tönernen Füßen entpuppen. Vielleicht zu viele. Cloister rollte das Pergament weiter auf, wobei er zu vermeiden suchte, dass es ihm zwischen den Fingern zerbröselte. Die Schrift war schwer zu lesen, denn die Tinte war beinahe völ-lig verblasst. Er ging mit den Augen ganz dicht an das Pergament heran und begann zu lesen:
     
    Ich habe Jesus nie schaden wollen. Und ich habe auch nie wissen wollen, was ich weiß, noch tun wollen, was ich getan habe. Ich habe Jesus geliebt als den gütigsten der Brüder, als den nobelsten der Freunde. Ich bewun-derte ihn als Lehrer, denn das war er. Seine Lehren wa-ren tiefsinnig. Ob er Gottes Sohn war oder nicht, weiß ich nicht. Bei seiner Wiederauferstehung war ich nicht zugegen, bei seinen Wundern sehr wohl. Jesus hatte machtvolle Hände und ein machtvolles Herz. Er war ein Erlöser des Volkes und ein heiliger Mann.
    Deshalb litt ich mehr als sonst jemand, als der Hohe Rat uns verriet. Die übrigen Freunde Jesu glaubten, der Verräter sei ich gewesen. Doch sie kannten die Wahrheit nicht. Ich wollte Jesus nur aus der Gefahr erretten. Der Hohe Rat hat auch mich getäuscht. Man gab mir Geld, um Lasttiere zu kaufen, eine Karawane zusam-menzustellen und Jerusalem noch vor dem Passahfest zu verlassen. Wie konnte ich nur so dumm sein! Kaiphas, der Hohepriester, gab mir mehrere Soldaten mit, doch
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