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61 Stunden: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)

61 Stunden: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)

Titel: 61 Stunden: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
Autoren: Lee Child
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leicht grünliche Glastrennwand wies drei sich überlappende Elemente auf, die so angeordnet waren, dass seitlich zwei Hörschlitze entstanden. In der mittleren Scheibe befand sich wie an einem Bankschalter unten eine Durchreiche für Schriftstücke. Beide Hälften des Raums hatten einen eigenen Stuhl und eine eigene Tür. Vollkommen symmetrisch. Die Anwälte kamen auf einer Seite herein, die Häftlinge auf der anderen. Später gingen sie auf die gleiche Weise wieder hinaus, jeder zu einem anderen Bestimmungsort.
    Der Wärter öffnete die Tür vom Korridor aus und machte einen Schritt in das Sprechzimmer, um sich zu vergewissern, dass alles so war, wie es sein sollte. Dann ging er beiseite und ließ den Anwalt eintreten. Der kleine Mann wartete, bis der Wärter die Tür hinter ihm schloss und ihn allein ließ. Dann setzte er sich und sah auf seine Armbanduhr. Er hatte acht Minuten Verspätung. Wegen des Hundewetters war er langsam gefahren. Normalerweise hätte er es für grobes Versagen gehalten, zu einem Termin zu spät zu kommen. Unhöflich und unprofessionell. Aber Gefängnisbesuche waren etwas anderes. Häftlingen bedeutete die Zeit nichts.
    Wieder acht Minuten später wurde die zweite Tür in der Wand hinter dem Glas geöffnet. Ein weiterer Wärter trat ein und kontrollierte den Raum; dann verließ er ihn, und der Häftling kam herein. Der Mandant des Anwalts: ein Weißer, ungeheuer dick, von Fettwülsten strotzend und völlig unbehaart. Er trug einen orangeroten Häftlingsoverall. Handgelenke, Taille und Fußknöchel waren durch Stahlketten verbunden, die zierlich wie Schmuckkettchen wirkten. Seine Augen waren trüb, und sein Gesicht war ausdruckslos und gefügig, aber seine Lippen bewegten sich wie die eines leicht schwachsinnigen Menschen, der sich anstrengt, komplizierte Informationen zu behalten.
    Die Tür in der Wand hinter dem Glas wurde geschlossen.
    Der Häftling setzte sich.
    Der Anwalt rückte seinen Stuhl näher an den Raumteiler heran.
    Der Häftling tat das Gleiche.
    Symmetrisch.
    Der Anwalt sagte: »Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe.«
    Der Häftling antwortete nicht.
    Der Anwalt fragte: »Wie geht es Ihnen?«
    Der Häftling antwortete nicht. Der Anwalt verstummte. In dem kleinen Raum war es heiß. Eine Minute später begann der Häftling zu sprechen, zu rezitieren, Listen und Vorschläge sowie Sätze und Absätze abzuarbeiten, die er auswendig gelernt hatte. Zwischendurch sagte der Anwalt mehrmals: »Bitte etwas langsamer.« Daraufhin legte der Kerl eine Pause ein und machte dann mit dem Anfang des vorigen Satzes weiter, ohne sein Tempo oder seine leiernde Sprechweise auch nur im Geringsten zu verändern. Man hätte glauben können, das sei für ihn die einzige Art, mit anderen zu kommunizieren.
    Der Anwalt war stolz darauf, ein ziemlich gutes Gedächtnis zu haben – wie die meisten Juristen vor allem für Einzelheiten –, und er passte sehr gut auf, weil die Konzentration aufs Erinnern ihn vom tatsächlichen Inhalt der gemachten Vorschläge ablenkte. Aber trotzdem zählte irgendein kleiner Sektor seines Verstands vierzehn einzelne Straftatbestände mit, bevor der Häftling endlich zu reden aufhörte und sich zurücklehnte.
    Der Anwalt schwieg.
    Der Häftling fragte: »Haben Sie das alles?«
    Als der Anwalt stumm nickte, verfiel der Häftling wieder in träge Untätigkeit. Er wirkte geduldig wie ein Ochse. Für Häftlinge bedeutete die Zeit nichts. Vor allem für diesen. Der Anwalt schob seinen Stuhl zurück und stand auf. Seine Tür war nicht abgesperrt. Er trat wieder auf den Korridor hinaus.
    Fünf Minuten vor sechzehn Uhr.
    Noch sechzig Stunden.
    Der Anwalt wurde von demselben Wärter wie zuvor erwartet. Wenige Minuten später stand er draußen auf dem Parkplatz. Er war vollständig angezogen und hatte sein Eigentum wieder in den Taschen: alles beruhigend solide, gegenwärtig und normal. Unterdessen schneite es stärker, die Luft war kälter, und der Wind hatte aufgefrischt. Es wurde rasch und früh dunkel. Der Anwalt saß einen Augenblick da, während die Sitzheizung ihn zu wärmen begann, der Motor lief und die Scheibenwischer an beiden Rändern der Frontscheibe kleine Schneewälle auftürmten. Dann fuhr er los, beschrieb einen weiten Bogen, hörte die Reifen auf dem frisch gefallenen Schnee knirschen und sah weiße Flockenwirbel im hellen Doppelstrahl seiner Scheinwerfer. Vor ihm lagen das Tor, der Stacheldraht, das Warten, die Kofferraumkontrolle und dann die lange gerade
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