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43 Gründe, warum es AUS ist

Titel: 43 Gründe, warum es AUS ist
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Film.«
    »Warte mal kurz«, sagtest du und gingst zurück ins Kino. Die Tür schwang hinter dir zu, und durch die verschmierte Scheibe sah ich dich wie in einem unscharfen Film oder einer nicht restaurierten Kopie. Mit raschen Schritten warst du an der Wand, beugtest dich vor, und dann – ruckzuck – warst du wieder draußen, nahmst mich am Arm und ranntest, ohne zu gucken, mit mir über die Straße, rüber zur Schnellreinigung. Die Uhr über dem motorisierten Kleiderständer, den sie in Gang setzen, um die gereinigten Sachen herauszusuchen, zeigte mir, dass es noch früh war. Es war ein kurzer Film gewesen, also war noch reichlich Zeit, bis ich zu Hause sein musste und bis ich, wie versprochen, Al anrufen wollte, um ihm alle Einzelheiten zu berichten. Das Garderobenkarussell drehte sich, die Kleidungsstücke in ihren Plastikhüllen zogen eins nach dem anderen vorüber wie Menschen bei einer Feuerübung, bis der Ständer stoppte und ein hässliches Kleid und eine Kundin sich in einer knittrigen Umarmung wiedervereinigten. Du aber drehtest mein Gesicht zu dir (wie warm deine Hand sich anfühlte), bis ich sah, was ich sehen sollte: Lobby Cards nennt man diese Aushangfotos in den Kinofoyers, das weiß ich aus Wenn die Lichter ausgehen: Eine kurze illustrierte Geschichte des Films, und du hast die Lobby Card aus dem Carnelian geklaut. Es ist ein Original, eins von früher, das sieht man an den Farben. Glücklich sieht sie mich an, Lottie Carson mit dem berühmten Grübchen am Kinn und dem Schneesturm im Hintergrund, ein Püppchen im Pelz, Amerikas Leinwandliebling.
    »Dieses Mädel«, sagtest du, »diese Schauspielerin und die Dame da hinten – die sollen dieselbe sein, sagst du?«
    »Sieh sie dir doch an«, sagte ich und hielt das Foto an der anderen unteren Ecke hoch. Mir stockte fast der Atem, als ich es berührte. Ich hielt eine Ecke, du die gegenüberliegende, oben links war das Logo des Filmverleihs, und die vierte Ecke fehlt, siehst du, sie war am Reißnagel in der Kinolobby hängen geblieben, wo du das Foto abgerissen und geklaut hast, damit wir Lottie Carson zusammen ansehen und uns weiter Gedanken machen konnten.
    »Wenn sie es ist, dann wohnt sie vermutlich hier irgendwo«, dämmerte mir auf einmal. Sie war inzwischen schon ein ganzes Stück entfernt, den halben Block hinunter. »In der Nähe, meine ich. Irgendwo hier. Das wäre doch –«
    » Wenn sie es ist«, sagtest du wieder.
    »Die Augen sind schon mal gleich«, sagte ich. »Und das Kinn. Sieh doch mal hier, das Grübchen.«
    Du schautest die Straße hinunter, dann sahst du erst mich und schließlich wieder das Foto an. »Also«, sagtest du, »das hier, das ist sie definitiv. Aber die Dame da hinten, die ist es vielleicht nicht.«
    Ich hörte auf, das Foto anzusehen, und sah stattdessen – mein Gott, so was Schönes! – dich an. Ich küsste dich, und ich fühle es noch heute, meine Lippen auf deinen, ich weiß noch genau, was für ein Gefühl das war, damals, auch wenn ich es jetzt nicht mehr habe. »Selbst wenn sie es nicht ist«, murmelte ich an deinem Hals, als wir fertig waren – die Kundin aus der Reinigung, das hässliche Kleid schlaff über dem Arm, hatte uns mit einem »Ähem!« auseinandergetrieben –, »sollten wir ihr hinterhergehen.«
    »Was? Ihr hinterhergehen?«
    »Klar, komm!«, sagte ich. »Dann sehen wir ja, ob sie’s ist. Und außerdem –«
    »Außerdem ist es immer noch besser, als mir beim Essen zuzusehen«, sagtest du, als hättest du meine Gedanken gelesen.
    »Na ja, alternativ können wir auch essen gehen«, sagte ich, »oder musst du, was weiß ich, nach Hause oder so?«
    »Nein«, sagtest du.
    »Nein, du willst nicht, oder nein, du musst nicht nach Hause?«
    »Nein, ich meine, ja. Okay, wenn du willst.«
    Du wolltest schon wieder die Straße überqueren, um zurück auf ihre Seite zu kommen, doch ich hielt dich am Arm fest. »Nein, bleib hier«, sagte ich. »Wir sollten ihr mit etwas Abstand folgen, ganz diskret.« Das hatte ich aus Marokko um Mitternacht.
    »Was?«
    »Das ist einfach. Sie geht ja so langsam.«
    Du gabst mir recht. »Sie ist auch schon alt.«
    »Logisch«, sagte ich. »Sie dürfte so um die, warte mal – sie war jung in Greta in der Wildnis, und das war, lass mal sehen …« Ich drehte die Karte um und überflog blinzelnd die Infos auf der Rückseite.
    »Wenn sie es ist«, sagtest du.
    »Wenn sie es ist«, sagte ich, und du nahmst meine Hand. Und selbst wenn nicht, hätte ich gern gemurmelt, wieder ganz
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