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331 - Verschollen in der Zeit

331 - Verschollen in der Zeit

Titel: 331 - Verschollen in der Zeit
Autoren: Manfred Weinland
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spricht dafür, dass ich in ein dunkles Zeitalter gefallen bin. Aber kann es denn überhaupt noch schlimmer kommen als das, was mir bereits widerfahren ist? Wohl kaum.
    Ich schließe die Augen, nur für ein paar Atemzüge, die sich rasselnd durch meinen Brustkorb quälen, und ich sehe mich, wie ich ohne jede Hast den zeitlosen Raum durchmesse und ankommende Gegenstände prüfe, katalogisiere, deponiere... Seit ich denken kann, war dies meine Aufgabe, meine Bestimmung. Wenn ich müde bin, lege ich mich schlafen. Wenn ich durstig bin, trinke ich. Wenn ich hung–
    Schmerz, der mich wie eine glühende Klinge vom Kopf bis zu den Zehen durchbohrt, wirft mich aus meinem Wachtraum, aus der Essenz meiner Sehnsucht, in die ich mich zu flüchten versucht habe.
    Die Wahrheit lässt sich nicht betrügen. Ich bin dem Tode geweiht. In dieser Welt bin ich ein Anachronismus, der keine Überlebenschance hat.
    Ich habe kein Gefühl dafür, wie lange es dauert, bis mir bewusst wird: Ich starre immer noch auf mein leeres Handgelenk.
    Der Armreif. Vielleicht kann ich ihn finden. Vielleicht ist er noch intakt. Er muss sich beim Aufprall gelöst haben, obwohl er dagegen gesichert ist. Normalerweise begleitet ein Controller seinen Träger auf Lebenszeit. Aber normalerweise ist er auch keinen Kräften ausgesetzt, wie ich sie erleben musste. Und vielleicht wähnte der Armreif mich auch schon tot und löste sich deshalb vom Gelenk.
    Er muss hier irgendwo sein, ganz in der Nähe. Also beweg dich! Such danach! Dir bleibt nicht mehr viel Zeit!
    Meine innere Stimme ist erschreckend kalt und sachlich. Unglücklicherweise hat sie jedoch recht.
    Ich versuche die alles dominierenden Qualen wenigstens so weit auszublenden, dass ich mich trotz des Schmerzes bewegen kann. Nach einer Weile gelingt es mir.
    Unter anderen Umständen hätte ich vielleicht kapituliert und mich zusammengerollt, um auf das Ende zu warten. Aber ich liege nur einen Steinwurf von dem rettenden Tor entfernt, durch das ich vielleicht nach Hause gelangen könnte. Ohne den Controller jedoch sind meine Chancen gleich null!
    Obwohl meinen Blicken verborgen, lockt mich das Tor auf eine schwer zu beschreibende Weise. Ich wittere es förmlich, dort oben an der Spitze der primitiven Pyramide, wo eine Anomalie existiert, die seine Installation erst möglich machte.
    Bis es entartete, weil die Parallelwelten, die es verband, sich voneinander entfernten.
    Aber das ist jetzt nicht wichtig.
    Wichtig ist allein, den Armreif zu finden und zur Spitze der Pyramide zu gelangen. Bevor mich die Kräfte ganz verlassen und ich ein Opfer dieser wilden Welt werde.
    Wilde Welten – so nennen wir Archivare die Mehrzahl von Erden, zwischen denen der zeitlose Raum wie ein Fahrstuhl in einem vielstöckigen Gebäude pendelt. Nein, das ist ein missverständlicher Vergleich. Der zeitlose Raum ist in allen Realitäten zugleich vorhanden. Er bewegt sich nicht. Er ist der Anker. Dessen Ketten reißen, eine nach der anderen...
    Mühsam ziehe ich mich an der Kante der über mir liegenden Pyramidenstufe hoch. Es kostet mich ebenso viel Überwindung wie Kraft. Überwindung, weil ich die Schmerzen meiner gebrochenen Extremitäten und auch das Brennen in meinem verzerrten Rumpf zwar zu ignorieren versuche, es mir aber nur unvollkommen gelingt. Immer wieder versinke ich in einer See von Qual, die mir die Tränen – oder ist es schon Blut? – in die Augen treibt.
    Schließlich komme ich halbwegs zum Sitzen, was mir schon wie ein Triumph anmutet, und taste mit den Händen um mich, während ich den Blick schweifen lasse.
    Keine Spur vom Armreif.
    Entmutigt drohe ich in mir zusammenzusinken und seitwärts zu kippen. Doch dann regt sich Trotz, sodass ich verwundert feststelle: Ich fürchte mich vor dem, was am Ende meines Leidens stehen wird!
    Wo ich herkomme, ist Tod keine Zwangsläufigkeit mehr, die ein Individuum auslöschen muss . Wo ich herkomme, haben wir die Wahl, wie lange unsere biologische Aktivität dauert. Wir sterben, wenn wir sterben wollen. Wir nennen es auch nicht sterben. Weil sterben absolut und final klingt.
    Aber keiner von uns geht je wirklich. Die Essenzbewahrer fangen auf, was frühere Generationen die Seele nannten. Und diese Seelen ruhen dann körperlos so lange, bis sie zum Ausdruck bringen, wieder reinkarnieren zu wollen. Die Bewahrer weisen ihnen Körper zu, von denen sie wissen, dass Seele und Hülle miteinander harmonieren werden. Körper, deren Besitzer irgendwann freiwillig aus dem Leben
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