Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
291 - Die heilige Stadt

291 - Die heilige Stadt

Titel: 291 - Die heilige Stadt
Autoren: Christian Schwarz
Vom Netzwerk:
selten und darum teuer war, vor ihm abstellte. Sie roch leicht ranzig, so wie er es liebte. Er nahm ein paar Schlucke.
    An einem Tisch sitzend vertiefte sich der junge Mann anschließend in seine Unterlagen und Bücher. Fast eine Stunde hatte er den großen Raum mit den Bänken und Wandschränken für sich, dann traten lärmend und lachend seine Mitschüler ein. Lobsang Champa ging ihnen voran, seinen ewigen Kumpel Lhündrub an seiner Seite.
    Lobsang führte wie immer das große Wort. Als er Chan erblickte, blieb er stehen, als sei er gegen eine Wand gelaufen. Abrupt verstummte der Lärm um ihn herum, auch die anderen aus der Meute verharrten. Ein breites Grinsen legte sich auf Lobsangs feistes Gesicht. Lhündrub kopierte ihn fast perfekt.
    »Nun sieh mal einer an. Unser Streber ist bereits bei der Arbeit. Hast du hier etwa übernachtet, Samsara-Scheißer(buddhistisches Schimpfwort: Samsara bedeutet in diesem Zusammenhang in etwa »bemitleidenswert«)? Möchtest uns wohl mal wieder allen auf den Kopf pissen, was?«
    Chan hob kurz den Kopf, erwiderte aber nichts. Stattdessen schaute er zurück in seine Bücher. Lobsangs Grinsen gefror. Er trat drei Schritte vor und baute sich direkt vor Chan auf, der krampfhaft weiter nach unten starrte. Dann schnüffelte Lobsang plötzlich.
    »He, Leute, ich glaube, hier mieft's gewaltig nach Gosse. Ob unser kleiner Darunterstehender aus so ärmlichen Verhältnissen kommt, dass sich seine Alten nicht mal eine Dusche leisten können?«
    Vereinzelt lachten die anderen los, Lhündrub am lautesten. Khyentse trat neben Lobsang und fasste ihn zaghaft am Arm. »Lass ihn bitte in Ruhe«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Er hat dir doch nichts getan.«
    »Hat er nicht?«, zischte Lobsang, schüttelte Khyentses Arm ab wie eine lästige Fliege und sah sie drohend an. Dann wandte er sich wieder Chan zu.
    »He, Arschloch. Wenn ein Edler fragt, hat ein Darunterstehender zu antworten. Verstehst du mich? Habt ihr eine Dusche zu Hause? Oder suhlen sich deine Alten im Dreck? Ich will sofort eine Antwort haben, warum du so stinkst.«
    Chan blieb auch jetzt ruhig und brachte seinen Peiniger damit zur Weißglut. Mit einem Tritt fegte Lobsang den Yakmilch-Becher vom Tisch. Er klapperte zu Boden, während die weißtrübe Flüssigkeit über den Tisch, die Bücher und Chans Obergewand spritzte. Auch im Gesicht bekam er einige Tropfen ab. Chan putzte sie sich scheinbar gleichgültig ab.
    In diesem Moment betrat Lhamo den Raum. Stirnrunzelnd betrachtete der alte Mann die Szenerie, während sich die Schüler auf ihre Plätze schlichen. Auch Lobsang wagte keine weitere Aktion mehr, zu groß war der Respekt vor dem weisen Lehrer.
    Lhamo, der genau wusste, was hier gerade passiert war, sah die vierzehn Schüler und sieben Schülerinnen der Reihe nach an.
    »Chan, du gehst dich waschen und besorgst dir ein neues Gewand im Textilhaus, während Lobsang den Raum von der Milch säubern wird. Erst wenn das erledigt ist, werden wir mit dem Wissenstest beginnen.«
    »Wieso ich?«, fragte Lobsang, hob die Arme und drehte sich in die Runde. »Ich hab doch gar nichts gemacht. Oder, Leute?« Die Empörung in seiner Stimme klang absolut authentisch. Das konnte er gut.
    Lhamo ließ sich allerdings nicht täuschen. »Mach es.«
    Lobsang Champas Gesicht verzog sich vor Wut, er wagte es aber nicht mehr, Lhamo zu widersprechen. Schweigend wischte er die Milch auf, während Chan das ihm Aufgetragene erledigte. Anschließend hatten Khoms heranwachsende Kinder eine umfangreiche Arbeit im Fach Geschichte über das irdische Mittelalter zu schreiben. Chan gab die Arbeit als Erster ab. Lhamo, der die Blätter überflog, setzte eine wohlwollende Miene auf.
    »Sehr gut, Chan, wirklich sehr gut«, murmelte er und lächelte seinem Musterschüler nun sogar zu. »Ich sehe auf den ersten Blick das unglaubliche Wissen, das du besitzt und jederzeit abrufen kannst. Aber ich gebe zu, dass ich genau das erwartet habe. Mit dir wird der Große Rat Khoms ein Mitglied erhalten, das die Dinge auch aus anderen als den althergebrachten Perspektiven zu betrachten versteht. Auch wenn es wohl noch einige Jahre dauern wird.«
    »Danke, Lehrer Lhamo.« Chan verneigte sich kurz, warf einen kurzen Blick auf Lobsang, der gerade an seiner Wut erstickte, und auf Khyentse, die ihm einfältig zulächelte. Dann drehte er sich um und verließ die Klasse.
    Chan nutzte die Zeit, um die nächste Unterrichtsstunde vorzubereiten. Eine halbe Stunde später waren auch seine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher