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291 - Die heilige Stadt

291 - Die heilige Stadt

Titel: 291 - Die heilige Stadt
Autoren: Christian Schwarz
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Mitschüler fertig. Über ein Gewirr aus Treppen und Stiegen mussten sie sich in den nächsten Klassenraum begeben. Physik stand an.
    Während die anderen zwanzig vorauseilten, kam Chan, der noch ein Kapitel fertig gelesen hatte, hinterher. Als er um eine Felskante bog, um die der Weg führte, stolperte er unversehens über ein ausgestrecktes Bein. Er kam ins Straucheln und knallte unsanft auf den Boden. Dabei ließ er seine Bücher los. Das Physiklehrbuch rutschte halb unter den schmalen Spalt, der zwischen Weg und Schutzgeländer klaffte.
    Chan biss die Zähne zusammen. Er war auf den linken Ellenbogen geknallt und wollte sich den Schmerz, der durch seine linke Körperhälfte raste, nicht anmerken lassen. Während er das wiehernde Lachen der anderen hörte, sah er sein Physikbuch, das in die Tiefe zu stürzen drohte. Das Adrenalin schoss ihm in die Blutbahn. Er musste das Buch unbedingt retten!
    »Toll, die physikalischen Fallgesetze funktionieren ja tatsächlich so, wie's in den Büchern steht!«, grölte Lobsang Champa. »Was meint ihr, ob wir für dieses Experiment am lebenden Objekt Sonderpunkte kriegen?«
    Chan langte nach dem Physikbuch. Aus den Augenwinkeln sah er einen Fuß mit einem roten Schuh neben sich auftauchen. Lobsangs Fuß! Bevor Chan das Buch zu fassen bekam, kickte der Fuß dagegen. Es wurde vollends durch den Spalt gepresst und flatterte in die Tiefe.
    Chan schrie. Zum ersten Mal, seit er sich bei Khoms heranwachsenden Kindern aufhielt. Grenzenlose Wut brach sich Bahn. Er packte den Fuß mit dem roten Schuh am Knöchel und zog mit einem Ruck daran.
    Lobsang schrie ebenfalls. Er knallte unsanft auf den Rücken. Gleich darauf saß Chan auf der Brust des Sechzehnjährigen, der schon in diesem Alter zur Fettleibigkeit neigte, und bearbeitete das entsetzt verzerrte Gesicht vor sich mit seinen Fäusten. Links, rechts, immer wieder, so präzise wie ein Uhrwerk.
    Blut spritzte. Lobsang gurgelte, versuchte sich gegen Chan zu wehren, hatte aber keine Chance gegen den weitaus kräftigeren Jungen, der zehn Jahre lang auch körperlich hart gearbeitet hatte. Die Mitschüler waren so geschockt, dass sie nicht einzugreifen wagten. Khyentse bildete die Ausnahme.
    »Nein, nicht! Lass ihn. Du schlägst ihn ja tot!« Energisch ging sie dazwischen.
    Chan, der gespenstisch lautlos zugeschlagen hatte, erwachte wie aus einer Trance. Er stellte seine Schläge ein, stieg von dem wimmernden Lobsang herunter, packte seine restlichen Bücher zusammen und ging ohne ein weiteres Wort in Richtung Physikraum.
    Körperliche Schmerzen verspürte er keine mehr. Auch keinen Triumph. Nur unendliche Enttäuschung darüber, dass er sich so hatte gehen lassen. Dass Lobsang, der ihm bereits bei ihrem ersten Treffen prophezeit hatte, dass er alles tun werde, um Chans künftige Ratsmitgliedschaft zu verhindern, nun doch über ihn triumphieren konnte. Denn er hatte die große Chance, die das Leben für ihn bereitgehalten hatte, soeben zwar nicht mit Füßen getreten, aber mit Fäusten geschlagen.
    Da die Lehrer den weiteren Unterricht an diesem Tag ausfallen ließen, fuhr Chan nach Hause und brütete in einem kleinen Zimmer vor sich hin. Die Kerzen, die er für Buddha entzündete, würden ihm zwar auch nichts mehr nützen, aber er tat es trotzdem.
    Bereits am nächsten Tag mussten Khoms heranwachsende Kinder geschlossen vor dem siebenköpfigen Großen Rat Khom erscheinen; auch Lobsang Champa, der noch so malträtiert war, dass er sich nur mühsam auf den Beinen halten konnte.
    Nach alter Tradition wurden die Sünder in Ketten gelegt und von Soldaten durch die mächtigen Hallen und Säulengänge des Palastes getrieben, wo sie vom Volk, das extra dazu eingeladen war, mit Schmährufen bedacht wurden. Vor der Treppe zum Ratssaal mussten die Sünder demütig verharren. König Tenpa, in rotem Rock, verzierten Hosen, verzierter Jacke und kniehohen Stulpen über den Schuhen schritt die Treppe herunter und führte die Sünder in den Ratssaal.
    Während ihnen die Ketten abgenommen wurden, kam Chan so zu stehen, dass er Lobsang Champa direkt ins Gesicht blicken konnte. In den Augen, die aus dem Kopf verband lugten, bemerkte Chan ein triumphierendes Funkeln. Es brach ihm fast das Herz.
    Aber ich werde nicht weinen. Ich werde mein Schicksal wie ein Mann hinnehmen. Demütig, gelassen, gefasst. Ich bin eben noch nicht reif genug, um in diesem Leben aus dem unheil- und leidvollen Kreislauf des Samsara ausbrechen und erlöst ins Nirwana eingehen zu
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