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2592 - Im Zeitspeer

2592 - Im Zeitspeer

Titel: 2592 - Im Zeitspeer
Autoren: Leo Lukas
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über Regierungspflichten nachzudenken.«
    Der Kopf des Interpretors lief grün an vor Zorn. Es dauerte eine Weile, bis er sich zu Worten zwingen konnte: »Wie kommt es, dass du diesen Kretins mehr vertraust als mir? Sie könnten genauso gut auf die Idee kommen, dir hinterrücks den Schädel einzuschlagen.«
    »Worzz und seine Freunde sind einfache Leute. Sie haben's vielleicht nicht so mit der Ehrlichkeit - aber sie sind mit dem Intrigantentum deines hochedlen Standes nicht vertraut. Sie sind weitaus verlässlicher und ehrlicher als jene, die an den Hebeln der Macht sitzen. Glaub mir: Geschichte lügt nicht.«
    Julian Tifflor rückte seinen Rucksack zurecht, nickte Worzz ein letztes Mal zu und machte sich dann auf den Weg, vorbei an marodierenden, jubelnden, feiernden Söldnern.
    Er verließ das Schiffswrack, ohne sich noch einmal umzudrehen. Er hatte einen weiteren Kristall gewonnen, und es tat ihm in der Seele weh.
    *
    Gehen, gehen, gehen ...
    Und der Mut ist so müde geworden und die Sehnsucht so groß ... Und immer das gleiche Bild. Man hat zwei Augen zu viel.
    Eine Weile verlegte Tiff sich aufs Dichten. Er bastelte klassische Sonnette im Stil dieses, wie hieß er noch gleich? Bilke oder Milke oder so ähnlich.
    Mit Vornamen Rene, daran erinnerte Tiff sich noch, und dass er aus Österreich-Ungarn stammte, ziemlich sicher Prag. An einem Ort namens Duino hatte er gelitten und Elegien verfasst. Gestorben war er in der Schweiz; an Krebs. Leukämie?
    Was hätte dieser Dichter der Welt geschenkt, wenn ihm ebenso viel Zeit zur Verfügung gestanden hätte wie Julian Tifflor? Jedenfalls bessere Werke als das ungelenke Zeug, das Tiff verwarf, nachdem er Jahrtausende nutzlos daran herumgefeilt hatte.
    Mit Haikus, dreizeiligen japanischen Kurzgedichten, bei denen die Zahl der Silben strikt vorgegeben war, tat er sich ein wenig leichter. Wirklich befriedigend waren seine literarischen Ergüsse trotzdem nicht.
    Die Einsamkeit und scheinbar endlose Eintönigkeit nagte mehr denn je an Tifflors Nervenkostüm. Manchmal fühlte er sich beobachtet, als blicke ein Unsichtbarer ihm über die Schulter.
    Tiff erklärte sich das unangenehme Gefühl als Sinnestäuschung, verwandt mit den Halluzinationen und in unregelmäßigen Abständen wiederkehrenden Tagmahren. Auch, dass eine Art Raureif seine linke Hand überzog und sich allmählich, glitzernd wie Diamantstaub, bis hinauf zum Ellbogen ausbreitete, bildete Tiff sich wohl nur ein.
    *
    Der gazeähnliche Vorhang in der Mündung zum vierten Zeitkorn wirkte wenig vertrauenerweckend.
    An den Tuchrändern klebte eine Art Schorf. Die Luft, die durch den Spalt in den Langen Gang wehte, roch alles andere als erbaulich.
    Julian Tifflor nahm sein Sturmgewehr zur Hand. Die Waffe fühlte sich vertraut an. Wie auch nicht, nach all den Jahrmillionen der Wanderung!
    Er zählte bis zehn und atmete kräftig durch. Dann schlüpfte er durch den Vorhang, auf jede erdenkliche Gefahr vorbereitet - und stieß gegen einen schwabbeligen, voluminösen Körper.
    Tiff fühlte sich gepackt, seiner Waffe entledigt und gegen die Wand geschleudert, bloß einen Meter von seinem unbekannten Widersacher entfernt. Der Ruck presste ihm allen Sauerstoff aus den Lungen.
    Langsam sackte er zu Boden. Er war zu schwach, zu überrascht, um sich gegen den Koloss wehren zu können, der über ihm lauerte.
    Lange Arme streckten sich nach Tiff aus und drohten zuzupacken. Um ihn zu töten, um ihn in Stücke zu zerreißen ...
    »Wird auch Zeit, dass jemand vorbeikommt«, sagte das Wesen in der Sprache der Mächtigen. »Mir wurde allmählich langweilig.«
    *
    Tiffs Brustkorb schmerzte. Seine Gedanken wirbelten durcheinander.
    Wo war er gelandet? In welcher merkwürdigen Umgebung befand er sich? Und wer war dieses Geschöpf?
    »Ich hoffe, ich habe dir nicht allzu wehgetan. Bist du in Ordnung?«, fragte sein Gegenüber. »Ich wollte lediglich sichergehen, dass du nicht gleich wieder davonläufst.«
    Tiff nahm sein Gegenüber näher in Augenschein. Es war etwa drei Meter groß, ruhte auf vier stämmigen Elefantenbeinen und hielt zwei weitere Extremitäten weit von sich gestreckt.
    Der massige Oberkörper mündete in einem Kopfbuckel, der von unzähligen Hautlappen überzogen war. Sie funktionierten wie Deckel von Orgelpfeifen, die mal hier, mal da angehoben wurden und einen mehrstimmigen Chor ergaben, den Tiff als Sprache verstand.
    »Wer bist du?«, fragte er und suchte verzweifelt nach Sehorganen, auf die er seine Aufmerksamkeit richten
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