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255 - Winterhexe

255 - Winterhexe

Titel: 255 - Winterhexe
Autoren: Manfred Weinland
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Gruppe, ein halbes Dutzend Kinder beiderlei Geschlechts, von denen das Jüngste um die sechs Jahre alt sein mochte.
    »Und ihr?«, fragte er in schiefem Ton; offenbar war er mitten im Stimmbruch. »Wie heißt ihr? Woher kommt ihr und was wollt ihr in unserem Dorf? Ihr seht nicht aus, als würdet ihr Böses im Schilde führen. Die, die das tun, kommen immer nachts… oder haben diesen Ausdruck.«
    »Diesen Ausdruck?«, fragte Aruula interessiert. Der Junge war ihr auf Anhieb sympathisch. Auf den Mund gefallen war er jedenfalls nicht.
    »Ja, Lady. Ihr wisst es sicher selbst: Die Schurken gehen, reden und schweigen auch wie Schurken. Die Netten kommen ganz anders daher. Wie ihr eben.«
    Aruula lachte amüsiert auf. Was Matt seit Tagen nicht geschafft hatte, gelang diesem Knaben auf Anhieb. »Ich wünschte, es wäre tatsächlich immer so einfach. Leider könnte ich dir aus meiner Erfahrung viele Beispiele nennen, in denen die Schurken sehr, sehr nett daherkamen. Und auch sehr glaubwürdig - bis sie die Maske fallen ließen.«
    Der Junge stemmte die Fäuste in die Hüften und schüttelte entschieden den Kopf. »Dann«, sagte er im Brustton der Überzeugung, wobei seine Stimme für einen kurzen Moment sogar einen makellosen Klang hatte, der seine Ernsthaftigkeit unterstrich, »habt ihr nicht genau genug aufgepasst, Lady. Ich weiß, worauf man achten muss. Das ist meine Gabe. Meine Eltern werden es bestätigen…« Er drehte sich zu den anderen Kindern aus dem Dorf um. »Und meine Freunde hier auch - oder?«
    Sofort wurden allgemeine Beteuerungen laut, die seine Behauptung stützten. Für die Kinder schien der größere Junge ein Vorbild zu sein. Was nicht nur daran lag, dass er schon jetzt athletische Anlagen hatte und auch sonst recht hübsch war, sondern an seinem ganzen Auftreten. Die anderen waren schüchtern, was im Umgang mit Fremden auch ratsam war. Doch in seiner Begleitung warfen sie offenbar alle Bedenken und wohlgemeinten Vorsichtsmaßregeln ihrer Eltern bedenkenlos über Bord.
    »Sind Reisende bei euch willkommen?« Es war das erste Mal, dass Rulfan in die Unterhaltung eingriff. Er war neben Chira in die Hocke gegangen und hatte seinen linken Arm um ihren Hals gelegt.
    Der Junge mit der Alabasterhaut lachte fröhlich, als er sich ihm zuwandte. »Ich glaube nicht. Aber sie werden euch auch nicht gleich zum Teufel jagen - hoffe ich. Kommt, kommt mit uns. Ihr habt sicher Hunger und Durst. Im Dorf gibt es einen Brunnen mit sauberem Wasser, und wenn ihr Sachen zum Tauschen habt, wird man euch bestimmt auch etwas für eure knurrenden Mägen geben.«
    Während die Kinder sich umwandten und in Richtung Dorf vorauseilten, fiel Matt auf, was er bislang nicht hatte akzeptieren wollen, obwohl die Signale eindeutig waren. Die Art, wie der älteste Knabe sich zwischen der Schar bewegte, wie seine wedelnden Arme im Rennen immer wieder andere Kinder streiften, war eigentlich kaum zu missdeuten.
    »Ihr habt es auch gemerkt, oder?«, wandte sich Matt an Aruula und Rulfan, während er das Horsey zum Dorf hin lenkte.
    »Gemerkt?«, fragte Rulfan. »Was?«
    »Der Junge.« Matt zuckte die Achseln, zögerte kurz, meinte aber dann: »Er ist blind. Zumindest würde ich jede Wette darauf eingehen…«
    2.
    Rückblick, Mai 2517
    Südschottland, Lowlands
    Rothschild wusste, dass sein Vorhaben dem berühmten Ritt auf der Rasierklinge gleich kam. Die Verkleidung des schlanken, mittelgroßen Mannes war Chance und Risiko zugleich. Sollte er als falscher Händler entlarvt werden, blühten ihm Folter und Tod. Mit Gnade brauchte er nicht zu rechnen. Stadtkönige waren berühmt-berüchtigt für ihre Brutalität.
    Doch Angus Corr, der hier herrschte, war noch für etwas ganz anderes bekannt - und das hatte letztlich den Ausschlag gegeben, selbst ein vorzeitiges Ableben in Kauf zu nehmen.
    Um Corrs hier in Ayr gehortete Schätze rankten sich die wildesten Legenden, aber es gab auch verlässliche Hinweise, deren Beschaffung sich als nicht ganz billig erwiesen hatte. Doch seither fühlte sich Rothschild davon angezogen wie eine Martermotte vom Schein eines nächtlichen Lagerfeuers…
    Artefakte!
    Für einen Moment vergaß der Retrologe beinahe das feindselige Territorium, auf das er sich gewagt hatte. Er hatte die Stadt durch das nördliche Tor betreten. Dort herrschte reges Treiben, und er war mit seinem schwer beladenen Mular, das er am Zügel führte, nicht weiter aufgefallen. Leider hatte sich die Kreuzung aus Rind und Ackergaul als das
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