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255 - Winterhexe

255 - Winterhexe

Titel: 255 - Winterhexe
Autoren: Manfred Weinland
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störrische Biest erwiesen, als das sein Vorbesitzer es beschrieben hatte. Hier, innerhalb der Stadtmauer, hielt es sich bislang im Zaum. Rothschild hatte allerdings den Eindruck, dass es nur auf eine Situation wartete, in der es ihn am nachhaltigsten bloßstellen konnte.
    Er hatte das Mular samt Warenbestand von einem abgewirtschafteten Händler erworben, der wie so viele andere auch auf dem Weg nach Ayr gewesen war. Rotschilds geschulter Blick hatte den Wert der stinkenden Tiermumien, die der Händler eigenem Bekunden zufolge selbst von einem Kollegen aufgeschwatzt bekommen hatte, grob geschätzt und dem geschwätzigen Besitzer dann die Hälfte dessen, was er glaubte vertreten zu können, angeboten.
    Der gichtgeplagte Alte hatte gejammert und gefeilscht, bis sie schließlich dort anlangten, wo sich die Forderung mit Rothschilds Schätzung traf. Ein Handschlag, ein verheißungsvoll praller Lederbeutel, der den Besitzer ebenso wechselte wie das schläfrig glotzende Mular… und schon war Rothschild mit seiner neuen Tarnung weiter gezogen, hatte seinen Buggy drei Kilometer vor der Stadtgrenze in einem provisorischen Versteck zurückgelassen.
    Der Händler hatte keine unnötigen Fragen gestellt und sich schnurstracks wieder dorthin aufgemacht, von wo er gekommen war - ein wichtiger Punkt in Rothschilds Planung. Er wollte dem Alten nicht noch einmal begegnen, solange er sich in Ayrs Gassen herumtrieb. Kleinigkeiten entschieden oft über Erfolg oder Misserfolg einer Unternehmung. Und da auszuschließen war, dass Angus Corr etwas aus seinem Besitz gegen ein Kaufgeld herausrücken würde, hatte sich Rothschild gar nicht erst auf diese Vorgehensweise konzentriert.
    Schlafende Hunde sollte man nicht wecken, lautete das primäre Lebensmotto von Rothschild, mit dem er in den vergangenen dreiundvierzig Jahren seines Lebens ganz gut gefahren war.
    Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als ihn jemand im Vorübergehen grob anrempelte. Der verkappte Retrologe blieb stehen und entschuldigte sich reflexartig, ohne zu wissen, ob er denn Schuld hatte. Aber er wollte Streit jedweder Art vermeiden.
    Der Hüne, der sich bereits rücksichtslos den Weg durch den weiteren Menschenstrom bahnte, beachtete ihn gar nicht. Im Nachhinein wertete Rothschild dies als sein Glück, denn klar erkennbar auf dem Rückenteil des Lederwamses, den der ungeschlachte Kerl trug, prangte das Clanzeichen der Corrs.
    Rothschild versuchte vor sich selbst zu verbergen, wie sehr ihn der Beinahe-Zusammenstoß aufgewühlt hatte. Bislang hatte er sich der Sache gewachsen gefühlt, auf die er sich eingelassen hatte. Nun keimten erste Zweifel…
    ... die er mit einem beherzten Seufzer niederrang und seinen Weg fortsetzte. Fortsetzen wollte .
    Denn ausgerechnet jetzt schaltete das Mular mit seinem feinen Gespür für kritische Situationen auf stur. Ein Ruck, der Rothschilds rechten Arm durchlief, und ihm wurde klar, dass die eigenwillige Kreuzung von einem Lastentier nicht im Traum daran dachte, die Hufe von der Stelle zu nehmen, an der sie gerade geparkt waren.
    Ein Blick in die Augen seines unfreiwilligen Komplizen offenbarte Rothschild, was er befürchtet hatte: Neben der vorgegaukelten Teilnahmslosigkeit glitzerte dort etwas höchst Boshaftes, das keinen Zweifel daran ließ, wie sehr die Kreatur die Machtprobe genoss.
    Aber Rothschild wäre nicht Rothschild gewesen, hätte er nicht auch für diese Eventualität vorgesorgt. Vom Vorbesitzer hatte er sich über die Marotten des Mulars ausgiebig informieren lassen. Dazu gehörte, dass er die Lieblingsnascherei des Tieres in seiner Gürteltasche mit sich führte: kleine Stücke von Treberkuchen, einem Abfallprodukt beim Bierbrauen, dessen Geruch und Geschmack das Mular angeblich folgsam wie ein junges Lämmlein machten.
    Rothschild probierte es aus. In seiner geschlossenen Faust hielt er dem störrischen Vieh ein daumennagelgroßes Stückchen unter die Nüstern, öffnete die Finger so weit, dass das Aroma hindurchströmen konnte… und lenkte die Faust in die Richtung, in die er wollte, als die fleischige Zunge über die Außenseite lecken wollte.
    Sofort setzte das Mular nach… und diese Bewegung stoppte auch nicht wieder, nachdem Rothschild den Köder im Maul des Tieres verschwinden ließ. Zweifellos spekulierte es auf eine Zugabe.
    Durch das dichte Gewimmel des spätnachmittäglichen Treibens dauerte es dennoch fast eine Stunde, bis der falsche Händler dorthin vorgestoßen war, wohin es ihn wie magisch zog.
    Die
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