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2500 Kilometer zu Fuß durch Europa

2500 Kilometer zu Fuß durch Europa

Titel: 2500 Kilometer zu Fuß durch Europa
Autoren: Thomas Bauer
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irgendeine
Richtung und treffe schließlich abrupt auf ein wie aus Versehen hier
vergessenes Gutshaus, vor dem ein muskulöser Schwarzer den Rasen mäht.
Ungläubig betont er immer wieder, dass wirklich noch nie ein
Jakobsweg-Pilger an diesem Hof vorbei gekommen sei. Nachdem er mir zudem
mehrfach versichert, dass der Genfer See in einer Richtung liegt, in die ich
instinktiv auf keinen Fall gegangen wäre, bedanke ich mich herzlich und setze
meinen Weg bis nach Lausanne fort. Die Hauptstadt des Kantons Vaud ist vor allem Sportlern ein Begriff: Seit 1915 hat das
Internationale Olympische Komitee hier seinen Sitz. Zudem lebte von 1956 bis zu
seinem Tod 1989 der belgische Kriminalautor Georges Simenon in Lausanne. Nach
meiner Ankunft genieße ich den Sommerabend als Tourist, werde von einem
charmanten Museumsbesitzer in eine ‚Ausstellung der Gerüche’ eingeladen, in der
ich in einem abgedunkelten Raum mit betörenden Düften verwöhnt werde, und
verlasse dann den Jakobsweg, um mit dem Zug einen Abstecher nach Montreux zu
machen.
     
    Freddie Mercury blickt für immer auf den
Genfer See
     
    Den kleinen Ort am Genfer See muss ich
besuchen, weil die Musikgruppe Queen hier ihre letzten Platten aufgenommen hat.
„ If you want the peace of soul , come to Montreux“, ließ Freddie Mercury einst verlauten,
und zu Ehren des Sängers wurde nach dessen Tod eine Statue am Kai errichtet.
Von Caux , das sich 1.000 Meter über Montreux befindet
und mit einer quietschenden Seilbahn zu erreichen ist, genießt man bei gutem
Wetter einen Ausblick bis nach Genf. Einen Spaß mache ich mir daraus, die Leute
während der Fahrt zu schockieren, indem ich ihnen erzähle, wie ich hierher gekommen bin.
     
     
    Warum der Jakobsweg?
     
    Ein paar Tage vor meinem Aufbruch habe
ich mich mit Freunden und Arbeitskollegen über mein Vorhaben ausgetauscht. Die
meisten von ihnen waren skeptisch, sahen keinen Sinn darin, auf die
Annehmlichkeiten der Zivilisation, auf Fernseher, Auto und Bett zu vernichten
und empfanden es als äußerst unangenehm, mittags nicht zu wissen, wo man abends
schlafen wird. Kurz: Es sind Leute, die genau wie ich seit jeher an ein
bequemes, watteweiches eben gewöhnt sind. An ein Leben, bei dem man die
zweihundert Meter zum Einkaufen mit dem Auto zurücklegt, auf Kosten der Eltern
ein langes Studium oder eine Ausbildung absolvieren kann und den Tag möglichst
effizient strukturiert, um alle Überraschungen und Unwägbarkeiten
auszuschließen. Nun habe ich gegen einen Alltag, der, würde man ihn verfilmen,
eher einer Endlosfolge des Traumschiffs gleich kommen würde als einem Film mit,
sagen wir, Bruce Willis, generell überhaupt nichts einzuwenden. Im Gegenteil:
Ich genieße das Privileg, mich zum Beispiel mit wohlriechenden Damen statt mit
schwitzenden Gangstern, die mir an die Gurgel wollen, beschäftigen zu können.
Mein Problem ist nur, dass mir dieses Zuckerwatte-Leben in unregelmäßigen
Abständen als bloße Kulisse erscheint, als Film, bei dem statt Dialogen
seichter Smalltalk stattfindet und bei dem es letztlich um nichts geht, was mit
meinem Leben zu tun hat. In solchen Momenten ist es, als strömten die
Ereignisse an mir vorbei, ohne mich zu berühren oder als bekäme ich jeden Tag
von Neuem denselben Teller fader Suppe vorgesetzt, und ich verspüre eine
unaufhaltsame Lust nach neuer Würze und danach, hinter diese Kulisse zu
blicken. Dabei wähle ich meine Ausbrüche durchaus zielgerecht aus. Ich habe
beispielsweise kein Interesse daran, mich monatelang mutterseelenallein durch
irgendeine Eiswüste zu kämpfen. Was mich anzieht sind fremde Ansichten und
Lebensarten, Begegnungen, Menschenlächeln. In diesem Sommer nun begann
‚backstage’ der Jakobsweg. Und das Glück unterwegs besteht gerade darin, dass
man nicht weiß, was in den nächsten Stunden passiert. Indem man sich von dem
Zwang löst, alles kontrollieren und strukturieren zu wollen, erkennt man die
spontanen Veränderungen als das, was sie in Wirklichkeit sind: Möglichkeiten.
Wenn ich zum Beispiel an einem Tag zügig voran komme und 40 Kilometer weiter
südwestlich mein Nachtlager aufschlage: gut. Treffe ich aber stattdessen auf
eine interessante Pilgergruppe und komme darum nur 25 Kilometer voran: auch
gut. Vielleicht ist das Leben in Wahrheit leicht und wir sind es, die es
kompliziert machen. Der Organisationstheoretiker Herbert Simon hat das 1957
ungleich kunstvoller formuliert, indem er das Konzept des ‚ satisfying ’
entwarf. Demnach ist es
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