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2500 Kilometer zu Fuß durch Europa

2500 Kilometer zu Fuß durch Europa

Titel: 2500 Kilometer zu Fuß durch Europa
Autoren: Thomas Bauer
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die von Zeit zu Zeit implodieren. Ich muss
gestehen, dass ich, seit ich mir in Konstanz ein wissenschaftliches Studium’
angetan habe, keine allzu große Lust mehr verspüre, mich an theoretischen
Debatten zu beteiligen. Während ich meine Zähne putze, versichert mir der
französische Schweizdeutsche , dass Jesus bereit sei,
mich zu retten, was immer ich tue. Ich schlüpfe unter die Bettdecke und der
Vielreisende versucht mich zu überreden, dass es Leben auf anderen Planeten
gibt, die Fakten wiesen eindeutig in diese Richtung. Ich antworte eher
einsilbig und gebe vor, mich intensiv mit meinen Wanderkarten zu beschäftigen.
Als der Marokko-Heimkehrer bemerkt, dass das Weltall sich ganz offensichtlich
ziellos ausdehne, während der schweizerische Deutschfranzose bei seiner Schilderung
der Jungfrau Maria ins Schwärmen gerät, versuche ich die Diskussion zu
sprengen, indem ich einwerfe, dass ich auch bereits in Marokko war. Tatsächlich
lassen die beiden von ihren Großtheorien ab. Endlich haben wir ein Thema
gefunden, über das wir uns alle austauschen können. Der Marokko-Heimkehrer ist
begeistert, gibt mir spontan seine Adresse und versichert mir drei Mal, dass
ich ihn besuchen könne, wann immer ich wolle. Leider habe ich ihm mit meinem
Einwurf aber auch die Steilvorlage zu einer neuen Theorie geliefert, die er nun
kunstvoll und detailliert vor uns ausbreitet: Statt unsere Unkenntnis der
‚neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse über das Universum’ zu verkleinern,
lässt er uns jetzt an seiner Sichtweise der Nord-Süd-Problematik und der
Entwicklungszusammenarbeit teilhaben. Auch auf die Gefahr hin, unhöflich zu
wirken, schlummere ich zwischen den ‚sich ständig ändernden Terms of Trade’ und der ‚unrühmlichen Rolle der französischen
Entwicklungshilfe’ ein.
     
     
    Die beiden Gesichter von Genf
     
    Genf ist janusgesichtig ,
Genf hat zwei Seelen in seiner Brust. Denn neben der ,offiziellen’ Präsentation
dieser Stadt, zu der die glitzernde Wasserfontäne, die Bankhochhäuser, die
Juwelierläden und die repräsentativen Gebäude von über 200 internationalen
Organisationen, darunter die Vereinten Nationen und das Internationale Komitee
des Roten Kreuzes, gehören, neben dieser Stadt mit ihrem Strom Anzug tragender
Manager und den Hotels mit Übernachtungen zu Phantasiepreisen gibt es noch ein
anderes Genf. Eines, das man sieht, wenn man durch die engen Gassen der
Altstadt läuft, das man bemerkt, wenn man auf die Ankündigungen von Konzerten
und Lesungen achtet, wenn man die Graffiti-Parolen an den Wänden liest und wenn
man sich in den kleinen Straßen der Außenbezirke verliert. Dann bemerkt man die
bunte, jugendliche Seite dieser Stadt, die über eine quicklebendige
(Sub-)Kulturszene verfügt, die vor allem von der Nähe zu Frankreich und den
jungen frontaliers profitiert, die zum
Arbeiten in die Schweiz kommen, aber in Frankreich wohnen. Das Nebeneinander
von Luxus und Subkultur, Golfplätzen und Hinterhöfen, Opernaufführungen und
Technodiskos, Uhrenherstellern und Tätowierkünstlern verleiht der Stadt ein besonderes Flair, und die Gegenüberstellung der
verschiedenen Lebensweisen sorgt für eine Spannung, die Genf einen besonderen
Reiz verleiht.

Frankreich

Von Genf nach Le Puy
     

Gezackte Vulkane und eine Begegnung mit
Forrest Gump
     
    Am Genfer Bahnhof Cornavain nehme ich den Jakobsweg wieder auf. Da ich während meiner zweiwöchigen Schweizdurchquerung kaum einem Pilger begegnet bin, mache
ich mich darauf gefasst, dass ich auch heute allein unterwegs sein werde. Umso
erstaunter bin ich, als ich kurz nach Genf eine Gruppe von sechzig
französischen Wanderern einhole, die sich das Teilstück Genf — Le Puy vorgenommen haben. Angeführt wird der Pilgertrupp von
der Vizepräsidentin der ‚Gesellschaft der Freunde des Jakobswegs’ in
Frankreich, die ganz aus dem Häuschen gerät, als sie erfährt, dass ich von
Konstanz hierher gelaufen bin. Gemeinsam überqueren wir die
schweizerisch-französische Grenze, die hier nur aus einer alten Holzschranke
und einem verrosteten Schild mit der Aufschrift ,France’ besteht. Die Vizepräsidentin ist sehr zuvorkommend, aber für meine Begriffe ein
bisschen zu euphorisch, wenn es um den Jakobsweg geht. Außerdem hat sie die
Angewohnheit, Dinge, die sie wichtig findet, ständig zu wiederholen — „ach, Sie
kommen aus Konstanz, das finde ich toll, wirklich super, klasse ist das, also
wirklich...“ und so weiter. Stolz übergibt sie mir einen
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