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2500 Kilometer zu Fuß durch Europa

2500 Kilometer zu Fuß durch Europa

Titel: 2500 Kilometer zu Fuß durch Europa
Autoren: Thomas Bauer
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Rapperswil „über s’Hörnli “
führt, einen 1.133 Meter hohen, mit Raureif bedeckten Berg, auf dessen Spitze
ich den Kanton Thurgau verlassen werde. Beim Aufstieg wird der Jakobsweg zu
einem kleinen Waldpfad , der sich spiralförmig bergauf
schlängelt. Je höher ich steige, desto leiser werden die Geräusche von den
unten verlaufenden Straßen. Die Luft wird mit jedem Schritt klarer und kälter,
bis ich das Gefühl habe, der menschlichen Zivilisation entkommen und
stattdessen in eine stille, friedliche Welt geraten zu sein, die von würzigen
Düften nach Kiefernadeln und Tannenzapfen erfüllt und von weiten Aussichten in
ferne Täler geprägt ist. Kurz vor dem Gipfel überquere ich eine mit Felsbrocken
übersäte Hochebene, auf der ich plötzlich zwei Rehe entdecke, die mit
unglaublicher Sicherheit in großen Sprüngen talwärts fliehen. Schmetterlinge
wedeln vor meiner Nase herum, und für kurze Zeit fühle ich mich in einen dieser
kitschig-romantischen Zeichentrickfilme von Walt Disney versetzt, in denen sich
haufenweise Tiere auf saftigen Wiesen tummeln, im Hintergrund liebliche
Flötenmusik ertönt und alles irgendwie seine Ordnung hat. Versteht mich nicht
falsch, Leute, ich verfüge durchaus über einen ausgeprägten Realitätssinn und
bin in der Lage, Märchen von meinem eigenen Leben zu trennen. Aber an jenem Tag
tischte mir die Natur ein so reichhaltiges Büffet an Farben, Gerüchen und
Stimmungen auf, dass ich mich hemmungslos daran satt gegessen habe. Nachdem ich das Thurgau verlassen habe, steige ich bedächtig nach
Rapperswil hinab, wo ich ein Zimmer in der Jugendherberge ergattere und meine
ersten Notizen per E-Mail digital nach Hause schicke. Die Zivilisation hat mich
wieder.
     
     
    Über Flüeli -Ranft
nach Sachseln
     
    Man bekommt Respekt vor den
Einzelheiten. Man merkt, dass auf einem Kilometer, den man ansonsten achtlos
mit dem Auto abfährt, allerhand geboten ist. Und man fühlt, dass die üppigen
Wiesen, der Pulverschnee auf den Bergspitzen, die träge dahin treibenden Wolken
und die fernen Geräusche der nächsten Ortschaft nicht nur üppige Wiesen,
Pulverschnee, träge dahin treibende Wolken und die fernen Geräusche der
nächsten Ortschaft sind, sondern zusammengefügt eine Stimmung ergeben, die
dafür sorgt, dass man mit entschlosseneren Schritten vorwärts geht.
     
    Auch heute geht es wieder auf und ab,
wobei der Abstieg immer belastender ist als der Aufstieg, vor allem für die
Knie und die Fußsohlen. Nach dem Ortsausgang von Rapperswil gehe ich den Seedamm nach Flurden entlang, der
auf 233 Eichenpfählen gebaut und mit knapp einem Kilometer die längste
Holzbrücke der Schweiz ist. Kurz darauf erreiche ich den Wallfahrtsort
Einsiedeln. Hierher zog sich im Jahr 835 der Mönch Meinrad in den ‚finstern
Wald’ zurück.

    Jahrzehnte später wurde ein Benediktinerkloster
errichtet, das die nach dem Vorbild Meinrads lebenden christlichen Eremiten zu
einer klösterlichen Gemeinschaft zusammenbrachte. Wider Erwarten treffe ich in
Einsiedeln keine Pilger, dafür begleitet mich knapp zwei Stunden lang eine
35-jährige Hundebesitzerin, die ihren Rottweiler mühsam an der Leine hält. Zum
ersten Mal seit meinem Aufbruch vom Bodensee wandere ich nicht allein. Von
Einsiedeln aus marschiere ich anschließend über den knapp 1.500 Meter hohen Hagenegg -Pass hinunter nach Schwyz (516m), das wie in einem
Bilderbuch, umrahmt von schneebedeckten Bergen, an der Ostküste des
Vierwaldstätter Sees liegt.
     
    Von der nahe gelegenen Ortschaft Brunnen
aus setze ich per Schiff über den Vierwaldstätter See, um den Weg in Buochs fortzusetzen. Es ist das einzige Mal, dass ich auf
dem Jakobsweg anders als zu Fuß vorwärts komme. Trotzdem bleibe ich in Einklang
mit der Pilgertradition, da seit jeher per Floß oder Boot über den
Vierwaldstätter See gesetzt wird, um eine Umrundung des östlichen Nebenarms
dieses Gewässers zu vermeiden. Auf der Überfahrt unterhalte ich mich mit einem
Professor aus Winterthur, der ganz aus dem Häuschen gerät, als ich ihm von
meinem Vorhaben erzähle, „und das in Ihrem jungen Alter!“. Über Stans und das
Touristennest Flüeli -Ranft schlage ich mich bis Sachseln durch.
     
     
    Blasen, Muskelkater und zwei Skistöcke
     
    Ich muss gestehen, dass diese ersten
vier Tage alles andere als einfach sind: Ich habe Muskelkater in Waden und
Oberschenkeln, zwei Blasen an der linken Ferse und manchmal Schmerzen beim
Aufsetzen des rechten Fußes. Aber ich beginne zu lernen,
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