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2500 Kilometer zu Fuß durch Europa

2500 Kilometer zu Fuß durch Europa

Titel: 2500 Kilometer zu Fuß durch Europa
Autoren: Thomas Bauer
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ziehe drei Paar Socken
übereinander an, um weicher zu gehen und reduziere das Gewicht meines
Rucksacks, indem ich einen Großteil meiner Kleidung per Post nach Hause
schicke. Meine beiden Skistöcke leisten mir eine unentbehrliche Hilfe: Bei den
Aufstiegen sorgen sie für den nötigen Schwung, bei den Abstiegen wird dank
ihnen ein Teil der Belastung von den Beinen auf die Arme verlagert, und in der
Ebene federn sie meine Schritte ab, was mir als willkommener Nebeneffekt sogar
dann noch einen eleganten, schwungvollen Anschein verleiht, wenn ich in
Wahrheit bereits aus dem vorletzten Loch pfeife. Allerdings habe ich mich
unterwegs manchmal gefragt, ob die Erfindung des aufrechten Gangs wirklich eine
Glanzstunde der Evolution war: Während sich die meisten Tiere beim Fortkommen
auf vier Gliedmaßen stützen können, benötige ich hierfür zwei Krücken.
     
    Bereits am nächsten Morgen sind die
Schmerzen verschwunden, und im Vergleich zu den vergangenen Tagen ist das heute
eine beschauliche Wanderung. Etwa 25 Kilometer weit laufe ich um den Lungerersee herum, erklimme den Brünig und verlasse kurz darauf den Kanton Obwalden, um ins Berner Oberland zu kommen.
Den ganzen Tag jagen kleine Wolken der Sonne hinterher. Heute scheine ich
meinen Rhythmus gefunden zu haben. Wie automatisch laufe ich vorwärts und habe
in Brienzwiler , wo ich in einer alten Scheune auf
einem riesigen Strohhaufen übernachte, noch gute Lust, weiterzugehen.
Erstaunlich, wie schnell sich der menschliche Körper fremden Gegebenheiten
anpasst. Die Inuit im Norden Grönlands fangen bei 0°C an zu schwitzen, die
Bergvölker Ecuadors steigen ohne Anzeichen von Ermüdung auf 5.000 Meter Höhe,
und mein Körper hat sich in fünf Tagen daran gewöhnt, acht bis zwölf Stunden
täglich zu gehen. Vielleicht liegt die schnelle Anpassung in meinem Fall
allerdings auch daran, dass meine Lebensweise unterwegs natürlicher ist als zu
Hause.
     
    Der menschliche Körper ist nicht dazu
gemacht, acht Stunden pro Tag in gebeugter Haltung vor einem Bildschirm zu
kauern. Er ist zur Bewegung, zum Vorwärtsgehen geschaffen. Dabei ist das Gehen
anatomisch gesehen eine komplexe Handlung, an der etwa 200 Muskeln beteiligt
sind. Gerade wir ‚Westler’ können dadurch von Neuem das Prinzip der Entschleunigung lernen: Die
Langsamkeit des Gehens hat eine erdende Wirkung; es vereinfacht und reinigt die
Gedanken, so dass man sich Neuem zuwenden kann. Viele heutige Pilger lernen,
sich auf kleine, aber essentielle Dinge zu konzentrieren und das glitzernde
Beiwerk, das vor kurzem noch so wichtig erschien, zu ignorieren. Der Jakobsweg
bringt etwas in Bewegung, aber gleichzeitig bedeutet er auch Besinnung und
Anhalten, Neuanfang. Das Gehen wird so zu einer Art Meditation, und das
Loslassen von Erwartungen führt zu mehr Gelassenheit. Man lernt, dem Leben zu
vertrauen.
     
    Als ich auf dem Weg von Brienzwiler nach Interlaken um die Südseite des Brienzer
Sees wandere und die immer neuen Ausblicke auf das glitzernde Wasser und die
gegenüberliegende Gebirgskette genieße, wird mir klar, dass ich selten
zufriedener mit der Welt und meinem Platz darin war, obwohl — oder vielleicht
gerade weil — ich auf fast alle Annehmlichkeiten der zivilisierten Welt
verzichte: keine Straßen, keine Autos, kein weiches Sofa, kein Fernseher, keine
Zeitung, ich fühle mich gut.
     
     
    Gwatt , ein Name wie ein Schluckauf
     
    Am nächsten Morgen wähle ich von Spiez
aus eine landschaftlich reizvollere Variante des Jakobswegs, die mich zu dem
Dörfchen Gwatt bringt. Ein Name wie
ein Schluckauf, aber hier finde ich wieder auf den ursprünglichen Weg.
Entschlossen treibe ich mich vorwärts und durchquere eine kilometerlange, fast
menschenleere Hochebene, in der vereinzelt ein paar Häuser wie aus Versehen in
die Landschaft gesetzt sind. Wie durch einen Schleier hindurch dringen
Geräusche zu mir: Hundegebell, Wortfetzen, Wind, der durch Baumkronen streicht.
Langsam reift ein Gefühl der Unwirklichkeit in mir heran, als sei dies eine aus
der Zeit gefallene Gegend, ein Niemandsland, das Gott, als er Raum und Zeit
schuf, übersehen haben musste. Menschliche Maßstäbe scheinen hier nicht zu
gelten, und es würde mich nicht wundern, wenn ich in diesem einsamen Landstrich
Wesen begegnen würde, die bisher noch keinen Kontakt zur Zivilisation gehabt
haben. Im Nachhinein waren diese so seltsam anmutenden
Stunden ein netter Spaziergang verglichen mit dem, was mich bei der Überquerung
der Pyrenäen erwarten
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