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2500 Kilometer zu Fuß durch Europa

2500 Kilometer zu Fuß durch Europa

Titel: 2500 Kilometer zu Fuß durch Europa
Autoren: Thomas Bauer
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merkt, dass auch
das möglich ist. Im besten Fall entsteht nach solchen Erfahrungen eine neue
Selbstsicherheit, und manche Pilger finden unterwegs etwas, das sie innerlich
lächeln lässt: Sie haben sich selbst besser kennen gelernt. Sie haben ihre
Möglichkeiten erkannt und die Zwänge anerkannt.
     
     
    Der Sommer ist auf dem Vormarsch
     
    Direkt nach der Überquerung der Rhône
empfängt mich das Département Savoie mit einem Naturpark. Erstaunte Touristen in
Badeshorts und Hawaii-Hemden, die auf dem Weg zum nahe gelegenen Badesee sind,
blicken mir nach, als ich mit langen Schritten und kraftvollem Schwung meiner
beiden Skistöcke den Park der Länge nach durchquere. An einem Kiosk kaufe ich
mir das lang ersehnte erste Eis in Frankreich, eine Wohltat bei etwa 35°C und
nahezu Windstille. Seitdem ich von den Schweizer Alpenausläufern in die Ebene
hinabgestiegen bin, hat die Temperatur spürbar zugenommen. Der Sommer ist auf
dem Vormarsch, er schickt Insektenschwärme und abendliche Wärmegewitter als
Boten voraus. Und heute schenkt er mir einige laue Stunden in Serrières -en- Chautagne : Zum
dortigen Campingplatz gehört eine Bar im Freien, von der aus ich lange den
Ausblick auf einen kleinen, von Bergen umrahmten See genieße. Die Sonne zieht
einen rasiermesserscharfen Schatten durchs Gras, besprenkelt die Wohnwagen mit
Lichtresten, als wolle sie sie wach halten, aber das nützt ihr nichts: Meter
für Meter verliert sie an Boden, während ihr alter Gegenspieler, der Mond,
bereits aufmarschiert ist, mit seiner Armee aus Sternen, die ihr stückweise das
Licht streitig machen. Beleidigt flieht sie über die Berge nach Westen, weinrot
blicken die Steilhänge ihr nach, während der See sich bereits seit einer halben
Stunde in seiner dunklen Ecke schlafend gestellt hat. Wie immer tut er so, als
ginge ihn dieses Schauspiel nichts an: Er wird morgen wieder den Ahnungslosen
spielen, scheinheilig die ihm zugedachte Arbeit verrichten und der Sonne ihre
Lichtstrahlen zurücksenden.
     
     
    Der Weg zu einem Anfang
     
    Am nächsten Tag führt mich der Jakobsweg
durch eine mit Weinreben bewachsene Hügellandschaft, vorbei an abweisenden,
verschlossenen Kirchen. Da hier kaum Pilger durchkommen, sehen die Pfarrer der
Region keine Notwendigkeit, die Gotteshäuser zu öffnen. Dabei wäre, weil der
Weg grundsätzlich direkt dort vorbei führt, eine Rastgelegenheit, ein Glas
Wasser oder auch nur eine offene Tür eine Wohltat. So jedoch handelt es sich
bei den Kirchen in Frankreich um Gebäude, die man zur Kenntnis nimmt und
weiterzieht; mit der Geschichte, die der Jakobsweg erzählt, haben sie nichts zu
tun. Heute gehe ich durch bis Yenne , der bisher
größten Station auf meinem Weg in Frankreich. In Yenne leben laut offizieller Statistik 2.599 Menschen. Heute Nacht werden es
ausnahmsweise 2.600 sein: Nach einem üppigen Abendessen bei einem acceuil jacquaire ,
einer Familie, die Wanderer aufnimmt, falle ich zufrieden in ein weiches
Doppelbett.
     
    In meinem Leben hatte ich das Glück,
bereits viele Orte sehen zu können. Ich stand vor dem ,Grand Canyon’ und habe südlich von Seattle die höchsten Bäume der Welt gesehen. Ich
lebte mehrere Tage im Dschungel Ecuadors, kletterte auf einen 5.000 Meter hohen
Vulkan und war Gast in fast allen Hauptstädten Europas. Ich durchstreifte
australische Eukalyptuswälder und fuhr die ‚Great Ocean Road’, eine Traumstraße der Welt, entlang. Ich verirrte mich im Straßengewühl
Marrakeschs, verspielte zehn Dollar in Las Vegas und legte mich unter dem
Sternenhimmel der Sahara schlafen. Doch keiner dieser Orte reicht an die
Ausblicke, die Stimmungen und die Begegnungen auf dem Jakobsweg heran, der
praktisch direkt vor meiner Haustür entlangführt.
     
    Es gibt eine Redewendung, die
Jakobspilger in Südfrankreich und Nordspanien oft zu sehen bekommen; sie steht
auf Hinweisschildern, in Reiseführern und Gästebüchern: ,Der Weg beginnt, wenn man in Santiago angekommen ist’. Vielleicht ist das wirklich
so; vielleicht sind die meisten Pilger unterwegs, um einen Anfang zu
finden: Den Ausgangspunkt für ein genauer definiertes, bewusster erlebtes und
darum freieres Leben.
     
    Der Jakobsweg ist völkerverbindend.
Nicht wie eine schwungvolle politische Rede, sondern unauffällig wie ein Fluss,
der, wenn man ihm folgt, dafür sorgt, dass man die Ländergrenzen als etwas
Künstliches erlebt. Ein Fluss schert sich nicht um Grenzen und Sprachen, er
folgt seinem natürlichen Lauf. Die Jakobswege
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