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2500 Kilometer zu Fuß durch Europa

2500 Kilometer zu Fuß durch Europa

Titel: 2500 Kilometer zu Fuß durch Europa
Autoren: Thomas Bauer
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mit
Freikonzerten, Theaterstücken, Lesungen und vielem mehr die Tradition des
Pilgerns, des Wanderns und des gemeinsamen Feierns unterstreicht.
     
    Auch 2004 ist ein solches besonderes
Jahr, und ich genieße den Wechsel aus Zurückgezogenheit in den Räumen der
Kathedrale und dem bunten Treiben in Santiagos Altstadt. Trotzdem wird mir das
alles mit der Zeit zu viel, ungewohnt ist der Trubel nach Wochen der
Einsamkeit, und manches — beispielsweise ein Pappschild, auf dem ,Hug the Apostel!’ steht, oder eine Pilgerstatue aus Zuckerguss
— kommt mir aufgebauscht und unnatürlich vor. Für mich ist jedenfalls in
Santiago klar geworden, dass mein Weg hier nicht enden kann, dass ich
weitergehen muss, weiter bis zu jenem sagenumwobenen galizischen Küstenort, den
man hier in Galizien Fisterra , das ‚Ende der Welt’, nennt. Aus Santiago
nehme ich die Erinnerung an drei besondere Tage und mehrere unvergessliche
Momente mit Anne, Pascal und Marc in der Kathedrale und den Gassen der Altstadt
mit — und eine Stimmung, die der Weltreisende und Wahlspanier Cees Noteboom in Santiago dereinst so beschrieben hat: „An
manchen Orten der Erde erhält auf geheimnisvolle Weise die eigene Ankunft oder
Abreise durch die Empfindungen all jener, die hier früher einmal angekommen
beziehungsweise wieder abgereist sind, eine besondere Intensität.“
     
     
    Am ,Ende der Welt’
     
    Nur wenige gehen nach der Ankunft in
Santiago de Compostela noch weiter zu jenem Ort, den die frühen Pilger einst so
eindrucksvoll geschildert haben. Man sehe dort das Meer, erzählten sie, und
ganz am Ende, dort wo die Wellen den Horizont berührten, höre die Erde
plötzlich auf und mache einer gespenstischen Leere Platz. Dort befinde sich das ,Ende der Welt’. Die Ankunft am übernächsten Abend
sollte anders sein als in Santiago, anders und bedeutsamer als all meine
Ankünfte zuvor. Bereits fünf Kilometer vor meinem Ziel, als sich die felsige
Landzunge von Finis Terrae vor mir erstreckt wie ein
schroffer, ausgestreckter Walrücken, habe ich das Gefühl, anzukommen, es
geschafft zu haben. Ja, hier an dieser Stelle muss mein Jakobsweg enden, hier,
an den steilen Felsen der Todesküste, am Ende der Welt, wenn der Blick nur noch
Ozean und Horizont vor sich sieht, Blau mit Blau gemischt, Zukunft, sanfte
Ewigkeit — hier, wo die Wellen jede Minute von Neuem wütend an Land springen,
wo der Wind weiße Gischtfetzen hinaus auf die See
schickt, hier, wo alles aufhört und alles neu beginnt, am äußersten Ende
Galiziens, am Meer, am Ozean.
     
    Am Meer, am Ozean. Ein Name reicht nicht
aus, um die Stärke zu beschreiben, die Größe einzufangen. Das Meer ist Metapher
für alles. Ursprung, Geburt, Leben. Chaos, Bewegung, Wandel. Tod, Rätsel,
Ewigkeit. Das Meer ist das Absolute. Für uns ist es nur an den Rändern
interessant, dort wo es Felsen aushöhlt, fruchtbare Landschaften erschafft und
sich an goldgelbe Sandstrände schmiegt. Das aber liegt daran, dass wir nicht
sehen, was unter der Oberfläche passiert. Die wahre Größe bleibt uns verborgen,
den Reichtum und das Ausmaß der Kraft können wir nur erahnen. Auf dieser Erde
mit ihren Winden und Wüsten, ihren Stürmen und Städten und ihren Lüften und
Lebewesen, auf dieser Erde gibt es nichts Stärkeres als das Meer.
     
    Drei Tage lang lasse ich die
Erinnerungen an die vergangenen 2.500 Kilometer Fußweg auf mich regnen. Ich bin
wieder in Konstanz, ich steige auf , s’Hörnli ’ und schicke meine Blicke die Felswände hinab, ich laufe im Zickzack durch
militärisches Sperrgebiet, rechts und links von Maschinengewehrsalven. Ich
starre ehrfürchtig auf die Genfer Wasserfontäne und folge den Gesprächen in der
Jugendherberge. Ich überquere die Grenze zu Frankreich im Schlepptau der
Vizepräsidentin der Freunde des Jakobswegs. Das Gesicht von Kurt weht durch
meine Gedanken. Ich blicke in die strahlenden Augen von Saquina ,
lasse mich von den tänzelnden Schritten Laetitias leiten und erlebe das
Wettrennen mit Pierre neu. Ich bin wieder im Nebel der Pyrenäen und treibe im
Strom immer zahlreicherer Pilger Richtung Santiago. Im Wechsel von einsamen
Halbwüsten und verheißungsvollen Städten durchquere ich Nordspanien, zusammen
mit Marc übernachte ich frierend in O Cebreiro. Ich treffe Anne und Pascal
wieder, eingepackt in Regenmäntel, ich schwinge gemeinsam mit ihnen im Rhythmus
Santiagos durch den weltbekannten Wallfahrtsort, ich breche nochmals auf, durch
Eukalyptuswälder und küstennahe Ebenen
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