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235 - Auf dem sechsten Kontinent

235 - Auf dem sechsten Kontinent

Titel: 235 - Auf dem sechsten Kontinent
Autoren: Michael M. Thurner
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Immer wieder versuchte man sie aus ihrem Kuschelzimmer heraus zu treiben, damit sie bei den Vorbereitungsarbeiten mithalf. Sie musste all ihre Tricks anwenden, um dem öden Schichtbetrieb zu entkommen, und in ihrem Bett herrschte Hochbetrieb.
    Schlitten wurden gepackt, Öl und Diesel aus Wostok herangeschafft, Fahrtrouten ausgekundschaftet. Die Australier, deren Stationen am ehemaligen Rand des Packeises standen, hatten sich ins Landesinnere zurückgezogen. Ihrer Meinung nach lag die gemeinsame Zukunft an den Küsten des Rosslandes, das vom Eis inzwischen freigegeben worden war – und vor dem sich eine Vielzahl kleiner Inseln aus dem Wasser geschoben hatte.
    Noch war es kühl dort, und noch wehten eisige Winde über die kahlen Felsen hinweg. Doch mit Hilfe seit Jahrhunderten eingefrorener Samenkapseln aus dem Dom hoffte man erste Inseln von Vegetation zu schaffen. Anspruchslose Flechten, Moose und Latschen sollten den Weg bereiten. Als Nächste würde man niedrig wachsende Nadelbäume heranziehen, die als Windfang dienen sollten. Erst dann konnten die Domländer daran denken, Obst- und Gemüseplantagen anzulegen.
    »Puh!«, seufzte Nanette. »Das ist ganz schön viel Aufwand, wenn man’s doch viel einfacher haben könnte.«
    »Wir können nicht hier bleiben«, entgegnete Pierre. Er wirkte verärgert. »Es wird nur noch Wochen dauern, bis die Hohlräume unter unseren Füßen einbrechen. Hörst du denn nicht das Knacksen und Knallen, wenn wieder einmal ein Teil der Landfläche wegbricht oder kollabiert? Wenn du mich jemals zur Abbruchkante zehn Kilometer südlich von hier begleitet und in den Abgrund hinabgeblickt hättest, wüsstest du, wie unsere Zukunft aussieht. Unglaublich tief geht’s da hinunter, und von allen Seiten, aus hunderten Quellen, spritzt Schmelzwasser aus Öffnungen im Eis.« Nanette sagte nichts. Wahrscheinlich hatten er und die anderen Domländer recht. Aber es musste andere Methoden geben, um sich in Sicherheit zu bringen. Solche, die nicht so viel Arbeit und Mühe bereiteten. Vielleicht konnte man die Russen überfallen und ihre Station übernehmen? Oder sie in die Sklaverei zwingen?
    Sie seufzte. Pierre zog sich um für eine der Zusatzschichten, die er leisten musste. Es blieben ihr sechs Stunden Zeit, um ihren eigenen, ganz persönlichen Aktivitäten nachzugehen. Davide würde anklopfen und auf seine Rechte pochen. Danach kam Giuliano an die Reihe, der als Belohnung ihre Arbeit im Verbindungsschacht zwischen Dom Eins und Dom Zwei übernehmen würde. Ihr Leben gewann an Härte in diesen Tagen…
    ***
    Auf einmal war er da. Ein riesiger Kerl, weit über zwei Meter groß, mit Narben am ganzen Körper. Die langen Haare hingen ihm wirr ins Gesicht, und unter einer verunstalteten Nase zeigte sich eine Hasenscharte. Unverdrossen, als machten ihm die niedrigen Temperaturen nichts aus, kam er eines Tages aus dem Nichts herangestampft und hieb mit seinen mächtigen Pranken gegen das Stahltor von Dom Eins.
    Die Aufregung war groß. So groß, dass selbst Nanette neugierig wurde. Sie zog ihren Overall über, verließ die Wohneinheit und schloss sich der Versammlung im Hauptraum von Dom Zwei an. Angehörige der russischen Delegation waren ebenso zugegen wie zwei Australier. Sie alle starrten den Neuankömmling an, als wäre er ein Gespenst. Sein Gewand hing ihm in Fetzen vom Leib. Nichts, was er besaß, wies auf seine Herkunft hin.
    »Ich bin… Franke«, sagte er mit gurgelnder Stimme, und verbesserte sich gleich darauf: »Der Franke.«
    »Du kommst aus einer deutschen Station?«, fragte Davide, der sich stets für die Geschichte ihrer Vorfahren interessiert hatte. Er galt als wandelndes Lexikon.
    Als Lexikon unnützen Wissens, wie Nanette in Gedanken hinzufügte. Selbst wenn sie miteinander schliefen, wirkte er geistesabwesend, und wenn sie ein paar Worte miteinander wechselten, faselte Davide von Stationen, von Forschungsarbeiten, von Distanzen, von einem Netzwerk Überlebender, das er so gerne errichtet hätte.
    »Den alten Aufzeichnungen zufolge«, fuhr der Projektleiter fort, »gab es viele tausend Kilometer von hier die Station Kohnen im Königin-Maud-Land. Nicht mehr als zwanzig Meteorologen aus Deutschland arbeiteten dort. Aber es ist doch nicht möglich, das du von dort bis hierher marschiert bist… oder? Gab es andere Überlebende?«
    »Ich weiß es nicht«, artikulierte der Mann in seiner unbeholfenen Art. »Ich weiß gar nichts. Aber man nennt mich den Franken. Ich war lange unterwegs, so
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