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235 - Auf dem sechsten Kontinent

235 - Auf dem sechsten Kontinent

Titel: 235 - Auf dem sechsten Kontinent
Autoren: Michael M. Thurner
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hier gelagert wurde. »Nachdem der Komet abstürzte – wie hieß er doch gleich? Clario Falotti? Cristiano Fetuccine? –, mussten sie sich ins Eis graben und sich selbst versorgen. Das war sicherlich nicht einfach…«
    »Reich mir die Bildschirme nacheinander rüber«, verlangte Maria. Sie belud einen Rollwagen und verschob die Teile ins Hintere des schlauchförmigen Gebildes.
    »Was für seltsame Berufe die Alten hatten«, plapperte Nanette unbeirrt weiter, während sie den vordersten der unbrauchbar gewordenen Hardware-Teile anhob. »Sie waren Geologen, Seismologen, Physiker, Astrologen, Glaziologen, Meteorologen und Was-weiß-ich-noch-für-logen. Den ganzen Tag haben sie Untersuchungen angestellt und irgendwelche blöden Zahlen notiert. Wenn ich mir ihre Instrumente ansehe, das ganze unsinnige Zeugs, da frage ich mich schon, was das für einen Sinn hatte…«
    »Den nächsten. Und ein bisschen rascher, bitte.«
    »Wozu brauchte man all das Wissen? Es ist doch voll-kom-men egal, ob es minus zwanzig oder minus dreißig Grad Celsius hat. Kalt ist kalt. Und ob das Eis hunderttausend Jahre alt ist oder zweihunderttausend, geht mir, ehrlich gesagt, auch am Arsch vorbei… Autsch!« Nanette griff sich an den Rücken und drehte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Maria um. »Nicht schon wieder!«
    »Was ist los?«, fragte die Ärztin stirnrunzelnd.
    »Mir hat’s einen Stich gegeben. Da drin!« Gebeugt humpelte sie auf Maria zu und deutete auf die untersten Knorpel der Wirbelsäule. »Werden wohl diese komischen Bindescheiben sein…«
    »Bandscheiben«, verbesserte Maria. »Kannst du dich aufrichten?«
    »Ich versuch’s mal… aua! Verdammt, tut das weh! Das … das ist schon das dritte Mal während der letzten Wochen. Ich kann einfach nichts Schweres tragen. Am Besten ist, ich geh zurück in mein Zimmer und leg mich ein wenig nieder. Der Schmerz geht vorbei, wenn ich ruhig bleibe.«
    »Ach ja?« Maria stieß Luft aus und drehte sich verächtlich beiseite. »Mach doch, was du willst, Nanette.«
    »Glaubst du mir etwa nicht, Maria?« Empört stemmte sie die Hände in die Hüften, erinnerte sich an ihre Rolle und schrie neuerlich vor Schmerz auf.
    »Wenn du’s wissen willst: Kein Wort glaub ich dir.« Marias Gesicht verzerrte sich im Zorn. »Du möchtest dir bloß nicht die zarten Fingerchen schmutzig machen. Du sitzt viel lieber unten in deinem Zimmer und siehst dir Jahrhunderte alte, idiotische Filme an, während rings um dich die Welt unterzugehen droht. Aber das ist dir egal, weil sich ohnehin alle anderen Bewohner des Doms abrackern und deinen Teil der Arbeit mit erledigen.«
    »Jetzt mach aber mal einen Punkt, Maria! Du bist die Stationsärztin, und du weißt, dass ich diesen Bandscheibenvorfall hatte…«
    »Vor drei Jahren, junge Dame! Ich habe dich physiotherapiert, habe dir Gymnastikübungen beigebracht und bin stundenlang mit dir spazieren gegangen.«
    Nanette erinnerte sich mit einem Schaudern. Ihre Füßchen hatten ewig lange geschmerzt von den ausgedehnten Wanderungen durch die Eiswüste, und ihre Nase wäre fast erfroren.
    »Jetzt ist der Schmerz halt zurückgekommen«, sagte sie trotzig. »Wenn du mir nicht vertraust, kannst du mich gerne untersuchen.«
    »Du weißt ganz genau, dass eine genaue Anamnese unmöglich geworden ist, seitdem der Computertomograph seinen Geist aufgegeben hat.«
    Ja, das wusste Nanette. Schließlich hatte sie selbst dafür gesorgt, dass das unheimliche, laut brummende Ding nicht mehr funktionierte. »Das ist dein Problem. Ich geh jetzt zurück in mein Zimmer und lege mich nieder. Wenn du Pierre siehst, sag ihm bitte Bescheid. Vielleicht kannst du ja vorbeischauen, wenn du mit der Arbeit fertig bist, und mich massieren?«
    »Mit der Arbeit fertig sein?!«, schrie Maria. »Siehst du denn nicht, was noch alles zu tun ist? Unter unseren Beinen entsteht ein Hohlraum, durch den ein gewaltiger Gletscherfluss fließt. Jeden Tag frisst er sich tiefer ins Eis, höhlt den Boden aus, zerstört die Strukturen. Wenn wir nicht so rasch wie möglich das Weite suchen, ist’s vorbei mit uns.«
    »Ihr macht das schon«, sagte Nanette leichthin. Sie humpelte an der Ärztin vorbei, quetschte sich durch den schlauchförmigen Ausgang und marschierte an der verdutzten Sophie vorbei zum Dom Eins. Wie sein Zwilling ragte das alte Gebäude mehr als zwanzig Meter aus dem Schnee hervor. Die Stahlverkleidung war von einer dicken Eisschicht bedeckt. Sie war immer und immer wieder geschweißt und verklebt
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