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2312

2312

Titel: 2312
Autoren: Kim Stanley Robinson
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Tonnen Wasserstoff pro Sekunde – womit der Stern noch weitere vier Milliarden Jahre zu leben hat. All diese langen Flammenspitzen umtanzen in kreisförmigen Mustern die kleinen schwarzen Pfützen, bei denen es sich um Sonnenflecken handelt – bewegliche Strudel im Feuersturm. In Massen strömen die Flammenspitzen zusammen, wie Seetang, der von den Meeresströmungen aufgehäuft wird. Es gibt nicht-biologische Erklärungen für diese verschlungenen Bewegungsprozesse – aber trotzdem sieht es lebendig aus, sehr viel lebendiger als manches, was wirklich lebt. Wenn man den apokalyptischen Sonnenaufgang auf dem Merkur betrachtet, ist es praktisch unmöglich, sich vorzustellen, dass es sich nicht um Zeichen von Leben handelt. Der Stern lässt einem die Ohren klingen, er spricht zu einem.
    Die meisten Sonnenläufer probieren nach und nach all die verschiedenen Filter aus und entscheiden sich schließlich für den, der ihnen am besten gefällt. Bestimmte Filter oder Folgen von Filtern werden zu Formen der Anbetung, persönlichen oder gemeinsamen Ritualen. Man kann über diesen Ritualen sehr leicht die Zeit vergessen. Es ist nichts Ungewöhnliches, wenn ein Sonnenläufer an seinem Aussichtspunkt durch etwas in diesem Spektakel in den Bann geschlagen wird – durch ein nie zuvor gesehenes Muster, durch das Strömen und Pulsieren, das den Verstand umgarnt. Mit einem Mal kann man das Knistern der feurigen Ausläufer hören, es schwillt zu einem wilden Tosen an – das ist das Blut, das einem durch die Ohren rauscht, aber es klingt wie die brennende Sonne. So kommt es, dass manche zu lange bleiben. Manche verbrennen sich die Netzhaut; manche erblinden; andere sterben sofort, wenn ihr überlasteter Raumanzug sie im Stich lässt. Manche werden in Gruppen von einem Dutzend oder mehr bei lebendigem Leib gekocht.
    Hältst du diese Leute für Dummköpfe? Meinst du, dass dir selbst niemals ein solcher Fehler unterlaufen würde? Sei dir da nicht so sicher. Du machst dir nämlich überhaupt keine Vorstellung davon. Es ist mit nichts vergleichbar, was du je gesehen hast. Kultiviert und gebildet, wie du bist, glaubst du vielleicht, du seist gegenüber derartigen Eindrücken unempfänglich, dass nichts außer der Welt des Geistes dich noch interessieren könnte. Aber das wäre ein Irrtum. Du bist ein Geschöpf der Sonne. Ihre Schönheit und ihr Schrecken, aus solcher Nähe gesehen, kann jeden Verstand leerfegen, jeden Menschen in Trance versetzen. Es ist, als würde man Gottes Antlitz schauen, sagen manche Leute, und die Sonne versorgt ja tatsächlich alle Lebewesen im Sonnensystem mit Energie; in diesem Sinne ist sie unser Gott. Ihr Anblick vermag jeden Gedanken im Kopf eines Menschen auszuradieren. Genau deshalb halten die Leute nach ihr Ausschau.
    Es gibt also gute Gründe, sich Sorgen um Swan Er Hong zu machen, die mehr als die meisten Menschen dazu neigt, Dinge einfach nur um eines Anblicks willen auszuprobieren. Sie geht oft Sonnenlaufen, wobei sie sich immer am Rande der Gefahr bewegt und manchmal zu lange im Licht bleibt. Die gewaltige Himmelsleiter, das körnige Pochen, der Strom der Flammenspitzen … sie hat sich in die Sonne verliebt. Sie betet sie an; in ihrem Zimmer hat sie einen Schrein für Sol Invictus errichtet und führt jeden Morgen, wenn sie in der Stadt aufwacht, zur Begrüßung der Sonne die Pratahsamdhya -Zeremonie durch. Ein Großteil ihrer Landschafts- und Performancekunst ist der Sonne gewidmet, und dieser Tage verbringt sie ihre Zeit hauptsächlich damit, Goldsworthys und Abramovics draußen auf dem Land und auf ihrem Körper anzufertigen. Die Sonne ist also Teil ihrer Kunst.
    Und jetzt ist sie auch das, was ihr Trost spendet, denn Swan Er Hong ist zum Trauern draußen. Von der Promenade auf der großen Dämmerungsmauer der Stadt Terminator aus könnte man sie im Süden stehen sehen, dicht am Horizont. Sie muss sich beeilen. Die Stadt gleitet auf ihren Schienen durch die Talsohle einer riesigen Delle zwischen Hesiod und Kurasawa, und bald wird sich eine Flut von Sonnenlicht bis weit nach Westen ergießen. Swan muss es in die Stadt schaffen, bevor es so weit ist, und trotzdem steht sie dort. Von der Dämmerungsmauer aus sieht sie aus wie eine kleine silberne Puppe. Ihr Raumanzug hat einen großen, runden, durchsichtigen Helm. Ihre Stiefel sehen riesig aus und sind schwarz von Staub. Eine kleine Silberameise in Stiefeln, die dort steht und trauert, obwohl sie doch eigentlich zum Bahnsteig westlich der Stadt eilen
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