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2312

2312

Titel: 2312
Autoren: Kim Stanley Robinson
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flotten goldenen Schuhen an den Füßen, die Schlitze für die Flügel aufwiesen. Es gab auch zahlreiche Porträts von Venezianern des 16. Jahrhunderts, die so lebensecht wirkten, dass man sich kaum gewundert hätte, hätten sie zu sprechen begonnen. Die meisten Gemälde hier waren Originale, die man zur sicheren Verwahrung hergeschafft hatte. Bei den übrigen handelte es sich um derart perfekte Kopien, dass man sie nur mit einer chemischen Analyse von den jeweiligen Originalen hätte unterscheiden können. Wie auch bei vielen der Museen des Merkur, die nur einem Künstler gewidmet waren, hoffte man, alle Originalbilder an diesem Ort versammeln zu können, während auf der Erde nur Kopien verbleiben sollten. Auf der Erde waren die Werke höchst unberechenbaren Umweltbedingungen ausgesetzt – Oxidierung, Korrosion, Rost, Feuer, Diebstahl, Vandalismus, Smog, Säure, Tageslicht. Hier hingegen herrschten zuträgliche und kontrollierte Bedingungen – hier war es sicherer. Das behaupteten zumindest die Kuratoren vom Merkur. Die Terraner waren sich da nicht unbedingt so sicher.
    Der Krötenmann kam nur langsam voran. Lange blieb er vor den Gemälden stehen und hielt seine Nase manchmal nur wenige Zentimeter vor die getrocknete Farbe. Tintorettos Paradies war zwanzig Meter breit und zehn Meter hoch – laut Begleittext handelte es sich um das größte jemals auf Leinwand gebannte Gemälde – und voll dicht gedrängter Figuren. Wahram trat bis an die durchsichtige Innenwand zurück, um es für eine Weile zu betrachten, ehe er seine übliche Haltung mit der Nase dicht an der Leinwand einnahm. »Interessant, dass er die Engelsflügel schwarz gemacht hat«, murmelte er und brach damit sein Schweigen. »Sieht gut aus. Und sehen Sie mal, wie die weißen Linien auf den schwarzen Flügeln dieses Engels hier Buchstaben bilden. C E R, sehen Sie? Der Rest des Wortes ist in einer Falte verborgen. Das wollte ich nachsehen. Ich frage mich, was es damit auf sich hatte.«
    »Eine Art Code?«
    Er antwortete nicht. Swan fragte sich, ob das seine normale Reaktion auf Kunst war. Er schlenderte zum nächsten Gemälde weiter. Möglicherweise brabbelte er bloß vor sich hin. Ihre Meinung zu diesen Gemälden interessierte ihn überhaupt nicht, obwohl er wusste, dass sie Künstlerin war. Sie ging ohne ihn weiter und betrachtete die Porträts. Die Massenszenen waren zu viel für sie, sie kamen ihr vor wie epische Filme, die man in eine einzige Einstellung gezwängt hatte. Die Leute auf den Porträts hingegen schauten sie mit Gesichtern an, deren Ausdruck sie sofort wiedererkannte. »Ich bin immer ich selbst, ich bin immer neu, ich bin immer ich selbst« – seit acht Jahrhunderten sagten sie das schon. Einfach nur Frauen und Männer. Die linke Brustwarze einer Frau lag entblößt direkt unterhalb der Krümmung einer Halskette. Swan meinte sich zu erinnern, dass so etwas in den meisten historischen Zeiten als ungehörig betrachtet worden wäre. Fast alle Frauen hatten sehr kleine Brüste und breite Hüften. Wohlgenährt und schlecht trainiert; stillten ihre Kinder nicht selbst; nicht die Körper von Frauen, die arbeiteten, sondern von Edeldamen. Beginnende Ausdifferenzierung. Tintorettos Leda wirkte durchaus hingerissen von dem Schwan, der sie schändete, tatsächlich versuchte sie sogar, ihn vor einem Eindringling zu beschützten. Swan war selbst das eine oder andere Mal der Schwan für eine Leda gewesen, natürlich ohne dabei Gewalt anzuwenden – zumindest keine körperliche Gewalt –, und sie erinnerte sich, dass das einigen Ledas gut gefallen hat. Anderen nicht so sehr.
    Sie kehrte zu Wahram zurück, der einmal mehr das Paradies betrachtete, diesmal von so weit weg wie möglich und damit aus einer schrägen Perspektive. Auf Swan wirkte es nach wie vor wie ein Riesendurcheinander. »Es ist ziemlich überfüllt«, sagte sie. »Die Figuren sind zu symmetrisch angeordnet, und Gott und Christus sehen aus wie Dogen. Eigentlich wirkt das Ganze wie eine venezianische Senatssitzung. Vielleicht hat sich Tintoretto das Paradies ja so vorgestellt.«
    »Hmm«, sagte er.
    »Sie sind anderer Meinung. Ihnen gefällt es.«
    »Ich bin mir nicht sicher«, sagte er und entfernte sich einige Meter von ihr.
    Er wollte nicht darüber reden. Swan ging weiter, um sich noch ein paar Venezianer anzusehen. Für sie war Kunst in erster Linie etwas, das man machte, und danach etwas, worüber man redete. Wortlose ästhetische Reaktionen, die Vereinigung mit einem Werk –
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