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226 - Das Schädeldorf

226 - Das Schädeldorf

Titel: 226 - Das Schädeldorf
Autoren: Mia Zorn
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in die Nase, und das erste Mal seit Jahren verzogen sich seine Lippen zu einem Lächeln. Er machte sich keine Gedanken mehr über die Worte des Wächters im Lager. Er genoss einfach nur die neuen Gerüche, den Anblick der Natur und das leise Gefühl von Freiheit.
    Mit einem Mal machte ihr Gefährt eine Vollbremsung. Stimmen riefen wild durcheinander. Autotüren wurden aufgerissen. Maschinengewehrsalven hämmerten.
    Auf der Ladefläche schauten sich die Menschen ängstlich an. Lann hob die Plane ein wenig hoch. Er sah, wie Uniformierte die blutigen Leiber von Frauen und Kindern davon schleiften. »Schaut, ob ihr noch jemanden findet, der sich vor der Arbeit auf den Feldern drückt!«, hörte er einen Kommandanten brüllen. Entsetzt wandte Lann Than sich ab. Er sank zurück auf die Ladefläche und dachte daran, was im Lager die Neuankömmlinge berichtet hatten:
    »Die neuen Söhne Kambodschas beginnen nun wahllos zu töten. Ihre Mütter und Väter. Ihre Brüder und Schwestern. Selbst vor ihren Kindern machen sie nicht Halt. Wer überlebt wird in schwarze Einheitskleidung gesteckt und auf die Felder gezwungen. Jeder ihrer Schritte wird so überwacht, dass sie um ihr Leben fürchten müssen. Und täglich verkündigen die Sprecher der Angkar ein neues revolutionäres Zeitalter, in dem jede Form der Unterdrückung und der Gewalt abgeschafft werden wird.« Der Maler ballte die Fäuste. Gleichzeitig spürte er, wie jegliche Hoffnung in ihm starb. Was auch immer ihn in Battambang erwartete: Die Freiheit war es nicht! Neben ihm begann ein Kind zu weinen. Lann Than strich über dessen verfilzte Haare. Es war ein kleiner Junge. »Heißt du Moju?«
    Der Kleine hob sein schmutziges Gesicht und schaute ihn aus großen braunen Augen an. »Nein«, schluchzte er.
    »Hast du schon einmal von Karsi’signak gehört?« Than hob ihn auf seinen Schoß und wischte ihm mit einem Zipfel seiner Jacke die Tränen von den Wangen.
    Der Junge schüttelte den Kopf.
    »Karsi’signak ist eine wundersame Stadt im Meer. Sie liegt so tief und so versteckt, dass keiner, der es nicht soll, sie jemals finden kann. Dort wohnen Wesen mit fast menschlicher Gestalt. Sie sind voller Liebe füreinander und leben friedlich mit den anderen Meeresbewohnern zusammen.«
    »Auch mit Haifischen?«, fragte der Kleine.
    »Auch mit Haifischen und Walen und Tintenfischen!« Während Lann seine Geschichte fortsetzte, fuhr ihr Lastwagen weiter. Nach einer Weile verließ das Gefährt die Ufer des Tonle Sap und bewegte sich über einen schmalen Pfad auf Battambang zu. Die Menschen auf seiner Ladefläche bekamen kaum noch etwas von der Fahrt mit. Ihre Augen hingen an Lann Thans Lippen und ihre Ohren saugten jedes Wort seiner Erzählung auf. So blieb ihnen der Anblick der entvölkerten Provinzstadt Battambang erspart. Doch nicht die Ankunft im Tempel, der außerhalb der Stadt lag.
    Als das Fahrzeug ihn erreichte, beendete der Maler gerade seine Geschichte mit dem Versprechen: »Irgendwann werden wir alle frei und in Karsi’signak glücklich vereint sein!« Noch während seine Leidensgenossen ihm freundlich zunickten und der Junge dankbar seine kleinen Arme um seinen Nacken legte, wurde die Plane beiseite gerissen. »Runter da! Los,los!« Lann Than wurde vom Laster gezerrt. Man stieß ihn über den Hof in ein Gebäude, das weniger einem Tempel, als einem Gefängnis glich. Hier brachte man ihn in ein kleines Zimmer.
    Er wurde vor einem schmucklosen Schreibtisch auf einen Stuhl gedrückt. Ihm gegenüber saß ein Mann in Offiziersuniform. Scheinbar war er in eine Akte vertieft. Nach mehreren Minuten sprach er den Maler völlig unvermittelt an. »Du hast den Moralkodex der Angkar verletzt! Bekennst du dich schuldig?«
    Than war irritiert. »Was ist der Moralkodex?«
    »Bekennst du dich schuldig?«, wiederholte der Mann stoisch.
    Lann Than schüttelte betreten den Kopf. Was hatten sie vor mit ihm? Was wollten sie noch hören, bevor sie ihn umbrachten? »Was werfen Sie mir vor?«, fragte er leise.
    Der Offizier antwortete nicht. Stattdessen stand er auf und stellte sich vor das geöffnete Fenster. Er nickte nur ganz leicht mit dem Kopf. Daraufhin knallte draußen ein Schuss. Ein Aufschrei des Entsetzens hallte vom Hof in das kleine Zimmer.
    Lann Than zuckte zusammen. Er wollte aufstehen und nachsehen, ob tatsächlich geschehen war, was er vermutete. Doch kräftige Hände drückten ihn zurück auf den Stuhl. »Bekennst du dich schuldig?«, hörte er den Uniformierten wieder fragen.
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