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226 - Das Schädeldorf

226 - Das Schädeldorf

Titel: 226 - Das Schädeldorf
Autoren: Mia Zorn
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Hafenkai von Krachéh stapelten. Neben ihnen hockte einer der Kuriere und löffelte seine Suppe. Er wartete noch auf den letzten Sack, der unter einem ausladenden Feigenbaum am Rande des Marktes stand. Dort umringten zwei Dutzend Menschen Lann Than, den Maler von Krachéh.
    Über ein hölzernes Notenpult gebeugt, füllte er einen Bogen Papier nach dem anderen. Eine zahnlose Alte tippte mit ihrem Stock gegen das Pult. »Alle, hörst du, alle sind gesund und wohlauf!«, rief sie dem schreibenden Mann zu. »Meine Leute sollen sich ja schließlich keine Sorgen machen. Aber schreib trotzdem, dass die Gicht mich wieder so plagt. Meine Schwester soll mir was von ihrer Heilsalbe schicken!«
    Ein Lächeln huschte über das Gesicht Lann Thans. Das Lächeln, das die Leute hier so mochten. Es war ohne Hintergedanken, ohne Gespött. Es kam direkt aus dem Herzen. Aus dem Herzen ihres Lann Than, der der Stadt schon so viel Ehre gebracht hatte: Prinz Sihanouk selbst hatte dem Künstler aus Krachéh die Hand geschüttelt. Vor vielen Jahren war das gewesen. Lann hatte damals ein Filmplakat gemalt, das an allen Lichtspielhäusern Phnom Penhs zu bewundern war.
    Aber nicht nur das zeichnete ihn aus: Obwohl er noch keine dreißig Jahre alt und Vietnamese war, galt er als besonnener und weiser Mann. Selbst die älteren Einwohner fragten ihn gerne um Rat. Außerdem sprach er unzählige Dialekte und konnte schreiben. Wahrhaftig, das konnte er. So schön wie ein Gemälde und so schnell wie der Blitz.
    Auch jetzt flogen seine schmalen Finger mit dem Stift über das Papier. Die Leute in seiner unmittelbaren Nähe bedachten jedes Zeichen, das er schrieb, mit einem Nicken, obwohl keiner von ihnen auch nur ein einziges Wort lesen konnte. Andere schauten ihm aus der Ferne bewundernd zu.
    Lann Than setzte den Stift ab und las der Alten die letzten Sätze vor. »Das Lachen ist in unsere Hütte zurückgekehrt, liebe Schwester. Alle sind wohlauf, und aus dem Mund des Jüngsten meiner fünfzehn Enkelkinder blinkt der erste Zahn. Während die Männer auf dem Fluss sind, sitze ich bei meinen Töchtern in der Körberei. Ich weiß, du wirst schimpfen bei diesen Zeilen, weißt du doch, wie schwer mir das Korbflechten mit meinen Gichtfingern fällt. Und die Salbe, die du mir vor zwei Jahren geschickt hast, ist sicher schon leer, denkst du jetzt. Du hast recht, geliebte Schwester. Sie ist leer, und es fällt schwer. Aber sorge dich nicht! Ich bin so von Dankbarkeit über das Ende des Krieges erfüllt, dass ich die grässlichen Schmerzen kaum spüre. Außerdem bleibt ja die Hoffnung, dass es dir bald möglich sein wird, mir wieder etwas von der kostbaren Salbe zukommen zu lassen. In Liebe, deine Schwester Kji Yong. Ist es so recht?« Lann schaute auf.
    »Oh, ja! Es ist wunderbar!«, tönte es von allen Seiten. Die Alte Frau nickte zufrieden. »Besser hätte ich es auch nicht schreiben können!« Der Maler reichte ihr den Stift. Sie malte drei Wellen mit einem Punkt darüber. Während Lann den Bogen faltete und in einen Umschlag steckte, kramte die Frau ein paar Münzen aus einem Beutel. »Und Lann, hast du schon etwas von deiner Schwester gehört?«
    Die Menschen unter den Feigenbaum spitzten die Ohren. Es war ihnen bekannt, dass die Schwester des Malers im Mekong-Delta im Süden Vietnams lebte. Lann Than besuchte sie dort einmal im Jahr. Mitgebracht nach Krachéh hatte er sie noch nie. Selbst seine Frau Thik Gieng kannte diese Schwester nicht. »Lann redet nicht gerne über sie«, pflegte Thik Gieng auf neugierige Fragen zu antworten, »zu schmerzhaft ist es für ihn, sie in diesem zerstörten Vietnam zu wissen.«
    Jeder hier wusste um die Zerstörung, die der Krieg im Nachbarland angerichtet hatte. Sie musste eine sehr eigenwillige Frau sein, diese Schwester. Wie sonst war es zu erklären, dass sie nicht ihrem Bruder nach Krachéh folgen wollte? Dass sie scheinbar darauf bestand, weiterhin alleine im Krisengebiet zu leben. Denn so weit die Bewohner Krachéhs wussten, hatte der Maler außer der Schwester keine Verwandten.
    Bevor aber Lann Than die Frage nach seiner Schwester beantworten konnte, rollte ein Kleinbus über die Hafenauffahrt. Aus seinem Dach ragte ein rostiger Lautsprechertrichter. Wie schon die Tage zuvor rief eine plärrende Rundfunkstimme das Demokratische Kampuchea aus. Auf dem Markt wurde es mucksmäuschenstill. Die Stimme aus dem Lautsprecher versprach ein Leben in Frieden, Unabhängigkeit und Gerechtigkeit, wenn jeder sich an die
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