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223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall

223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall

Titel: 223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall
Autoren: Residenz
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das heißt, er tippt seine Mitschrift, die er von einem Bogen Konzeptpapier abliest, mit Hilfe seiner beiden Zeigefinger in die Maschine. Der Bogen enthält die handschriftlichen Notizen, die er sich während der Vernehmung des Wagnermeisters gemacht hat.
Ich wohne in Hofamt Priel zk. 200 m von der Stelle entfernt, wo die erste Partie Juden erschossen wurde. Es war am 2. 5. 1945 um 24 Uhr, als ich Schüsse hörte. Diese Schüsse hörten sich an, wie wenn jemand an meinem Haus an einer Türe klopfen würde. Ich nahm an, dass vielleicht Einbrecher im Haus wären und stand auf. Meine Frau sagte, dass beim Brandstetter geschossen wird und dort Licht war. Ich zog mich an und war der Meinung, dass im Hause Brandstetter Partisanen sind. Ich ging zum Haus Brandstetter und stellte mich dort zum Gartenzaun. Dort sah ich, wie 10 – 12 Uniformierte, welche ich wegen der Dunkelheit nicht erkennen konnte, auf Personen schossen. Ich dachte mir auch gleich, dass diese Personen, welche hier erschossen wurden, die Juden sein könnten. Ich habe auch gesehen, wie die Soldaten über die erschossenen Personen etwas darüber gossen und sah auch gleich nachträglich einen hellen Feuerschein. Ich stand vom Ort, wo die Juden erschossen wurden, zk. 20 – 30 m entfernt. Ich sah auch, dass das Auto, welches beim Brandstetter Haus stand, beim Erschiessen der Personen mit ihren Scheinwerfern die zu erschiessenden Personen beleuchtete. Die Personen wurden zuerst mit einer Maschinenpistole und dann mit Pistolen und Karabinern erschossen. Das Auto, das vor dem Haus des Brandstetter stand, war ein Personenkraftwagen und war dieser schwarz gestrichen
.
    Während der Vernehmung fragte Winkler den Zeugen auch, warum er erst heute, immerhin 4 Tage nach der Tat, den Weg zum Posten gefunden habe. Neulinger deutete an, dass er erst sicher sein musste, dass nicht der Duchkowitsch die Aussage aufnähme. Sonst wäre seine Aussage nämlich sinnlos gewesen, wenn nicht sogar lebensgefährlich. Und er, Neulinger, habe ja die feste Absicht, den Krieg zu überleben. Schon wegen der Kinder und wegen des Hofes.
    Unkonzentriert tippt der Revierinspektor weiter seine Mitschrift ab.
Ich habe auch gehört, dass einer der Uniformierten zum stehenden Kraftwagen die Worte »Fritzl, blends Licht obi« rief. Ich wartete nicht ab, bis die Autos wegfuhren und ging früher nach Hause. Mehr kann ich in dieser Angelegenheit nicht angeben
.
    Zweimal fragte Winkler beim Zeugen nach, ob er diese Worte wirklich in Mundart gehört habe. Der Wagnermeister, der im Übrigen alles andere als den Eindruck eines unsicheren Zeugen macht, ist davon aber hundertprozentig überzeugt.
    »War’s das?«, fragt Johann Neulinger gelangweilt, als Winkler von der Schreibmaschine ablässt. Der Wagnermeister freut sich schon darauf, sich am Marktplatz vor dem Gendarmerieposten seine Pfeife anzünden zu können. Den Tabak dafür pflanzt er in seinem Vorgarten selbst an, und er schneidet ihn mit einem überaus scharfen Veredelungsmesser, das ansonsten nur bei Obstbäumen Verwendung findet, mühsam klein, so haarklein, dass er sich in die Pfeife stopfen lässt.
    »Ich muss es Ihnen nur noch vorlesen und Sie müssen nur noch unterschreiben.«
    »Mhm«, antwortet Neulinger.
    »Und Sie sind sich wirklich absolut sicher, dass der eine SS-Mann ostmärkischen Dialekt gesprochen hat?«, fängt Winkler noch einmal an.
    »Und wenn Sie mich das noch hundert Mal fragen – ja, das war sicher ein Unsriger«, antwortet der Wagnermeister bestimmt.
    Also war das eine zusammengewürfelte Einheit aus Reichsdeutschen und Ostmärkern, denkt Winkler. Obwohl er in den letzten Tagen nichts anderes getan hat, als einen gewichtigen Teil des ersten Kapitels der neueren österreichischen Kriminalgeschichte zu schreiben, kommt ihm das Wort »Österreich« noch nicht über die Lippen, nicht einmal in Gedanken verwendet er diese Bezeichnung.
    »In Wien soll es schon eine Regierung geben?«, fragt der Wagnermeister vorsichtig.
    »Davon weiß ich nichts«, antwortet Winkler leise. »Es ist schon schwer genug, hier einigermaßen über die Runden zu kommen.«
    Es ist der 8. Mai 1945, und vom Dach des Melker Spitals flattert bereits seit den frühen Morgenstunden die rot-weiß-rote Fahne, die fast schon vergessene, »tausend Jahre« lang verbotene Fahne eines Landes, das 1938 unterging, die alte Fahne eines uralten Landes, an dessen wundersame Wiederauferstehung außer ein paar unverbesserlichen Utopisten niemand mehr geglaubt hat. Gegen 9
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