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215 - Die Macht des Sehers

215 - Die Macht des Sehers

Titel: 215 - Die Macht des Sehers
Autoren: Jo Zybell
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die Schar der anderen Wartenden, die in respektvollem Abstand unter den Baobabs warteten. »Wer meinen Garten betritt, denn lass ich gar nicht erst bis zum Meister vor, ist das klar?« Das Mädchen drohte mit der Faust. »Und keiner frisst mir die Baobabfrüchte weg, die gehören mir und dem Meister!« Die Menschen machten betretene Gesichter und nickten scheu. In der Ferne sah Keetje jetzt eine Staubwolke.
    Motorengeräusch näherte sich. »Und das sagt ihr gefälligst auch denen, die noch hier aufkreuzen!« Sie deutete zu einem Baobab, der dreißig Schritte vom Hausboot entfernt in den Himmel ragte. Dort hockten die meisten Wartenden. »Da ist die Grenze, da wo ihr sitzt!« Wieder nickten sie unterwürfig.
    Keetjes Ruf hatte sich genauso schnell über den Nordteil der Insel verbreitet wie der des Meisters. Während Yann Haggard jedoch als gutherziger Seher, ja manchen gar als Halbgott galt, sprach man von Keetje hinter vorgehaltener Hand als Biest, Kratzbürste oder gar als Hexe. Offiziell hielt man sie für seine Tochter.
    Sie spuckte den Leuten hinterher, die ihren kranken Großvater davontrugen. Bei einem Blick in das, was sie
    »Garten« nannte, verdüsterte sich ihre Miene erst recht – ein Teil der Küchenkräuter war platt gedrückt. Freilich war das Stück Wildnis, das sie seit einem halben Jahr zu kultivieren versuchte, kaum als Kräutergarten zu erkennen.
    Das Motorengeräusch wurde lauter, die Staubwolke am Horizont wuchs. Keetje runzelte die Stirn. Inbrünstig hoffte sie, dass es der Heiler war, der sich dort näherte. Der Meister hatte nach dem alten Yessus schicken lassen. Doch seit wann benutzte der bucklige Greis einen Motorwagen?
    Sie wandte sich wieder an die Wartenden. »Also zuhören! Ihr müsst noch ein paar Tage durchhalten, der Meister hat jetzt keine Zeit!«
    Sofort erhob sich Gemurre, Gejammer und Geheule. »Wir warten schon so lang!« – »Ich hab solche Schmerzen!« – »Ich zahle den doppelten Preis!« – »Wie lange dauert es denn noch?« – so und ähnlich tönte es aus der Menge.
    »Er hat einen schwierigen Fall zu behandeln!«, behauptete Keetje. »Weiß der Kukumotz, wie lange das noch dauert!« Sie taxierte den Mann, der den doppelten Preis geboten hatte. Er war klapperdürr und hatte gelbe Haut. An der Maschine, mit der er von weiß Gott woher angereist war, hing eine Art Schutzbrille. »Du siehst ja aus, als wärst du schon tot!«, rief Keetje ihm zu. Der Mann nickte so eifrig wie traurig. »Komm halt her und bring das Ding mit, das da am Dampfrouler hängt!«
    Wieder wurden Flüche, Proteste und Gejammer laut.
    Natürlich fühlten die Leute sich benachteiligt. Der Mann aber hängte sich die Schutzbrille um den Hals und hinkte zum Schiff. Keetje wartete, bis er sich die Holztreppe heraufgequält hatte. Dann wandte sie sich um und lief vor ihm her zum Eingang.
    Dort blieb sie stehen und taxierte den Schwerkranken. Der rieb die knochigen Hände aneinander und sagte: »Danke, danke, schönes Mädchen! Ich wäre gestorben, wenn ich noch länger hätte warten müssen.«
    »Genau so siehst du aus.« Keetje neigte den Kopf auf die Schulter. »Du zahlst also den doppelten Preis?«
    »Ja doch, ja…!«
    »Also gut.« Sie deutete auf den Dolch mit dem Elfenbeingriff in seinem Gurt und auf die Schutzbrille. »Und ich bekomme diese beiden hübschen Dinge dafür, dass ich dich gegen das Gebot des Meisters vorgezogen habe.«
    »Ja doch, ja…!« Hastig zog er sich die Brille über den Kopf und den Dolch aus der Scheide und gab dem Mädchen beides.
    »Warte hier.« Keetje schlüpfte in den Decksaufbau des Schiffes und stieg ins Unterdeck hinunter. Das Gemurmel des Meisters raunte aus dem Halbdunkeln.
    Seit etwa sechs Monden lebten sie gemeinsam in diesem einst von einer Sturmflut aufs Land geworfenen Boot an der Nordküste von Madagaskar. Keetje und Yann. Die Besatzung der SCHELM hatte den verletzten Seher hierher gebracht und in Keetjes Obhut und Pflege zurückgelassen. [5] Auf ihre raubeinige Weise liebte sie ihn, wie sonst nur eine Tochter ihren Vater lieben konnte.
    Yann Haggards komplizierter Beinbruch war längst verheilt.
    Seit zwei Monden lief er wieder ohne zu humpeln. Nur seine Kopfschmerzen wollten nicht besser werden.
    Gleich nachdem sie sich in dem gestrandeten Boot häuslich eingerichtet hatten, kamen auch schon die ersten Eingeborenen, um zu sehen, wer hier wohnte. Zufällig waren einige von ihnen krank gewesen, und durch seine Gabe konnte Yann Haggard ihnen sagen, worunter
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