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215 - Die Macht des Sehers

215 - Die Macht des Sehers

Titel: 215 - Die Macht des Sehers
Autoren: Jo Zybell
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alte Yessus wohnte nur eine halbe Tagesreise entfernt in einem Fischerdorf an der Küste.
    Als Keetje die Luke zum Außendeck öffnete, stand Yessus schon davor. Zwei schwarze Kerle, breit wie Schränke und hoch wie Efrantenvögel eskortierten ihn. Keetje hatte sie nie zuvor gesehen. »Wer sind die?« Sie schob den Kranken an den Männern vorbei nach draußen. Misstrauisch beäugte sie die Kerle.
    »Meine neuen Haudegen«, krächzte Yessus. Er reichte Keetje gerade bis zum Kinn und hatte einen Buckel und hellbraune Haut. Sein Alter kannte Keetje nicht, sie schätzte aber, dass er mindestens fünfhundert Jahre alt war.
    Sie musterte die Kerle und schnitt eine angewiderte Miene.
    Noch nie hatte Yessus sich von Leibwächtern begleiten lassen.
    »Der Meister erwartet dich!« Sie zog den buckligen Greis durch die Tür. »Komm rein!« Die Kerle machten Anstalten, sich ebenfalls durch die Luke zu bücken. »Ihr wartet!«, fauchte Keetje sie an.
    »Wir kommen mit«, knurrte einer von ihnen.
    »Vielleicht im nächsten Leben.« Keetje fiel auf, dass die beiden sich glichen wie ein Ei dem anderen. Sie drückte ihnen die Tür vor der Nase zu und schob den Riegel vor. Ihr voraus tänzelte Yessus, der Heiler, zu Yanns Sprechkajüte.
    Er trat ein, begrüßte den murmelnden Mann, ging neben ihm in die Hocke und begann sogleich, ihn zu untersuchen.
    »Solche Kopfschmerzen«, jammerte Yann. »Solche unerträglichen Kopfschmerzen…« Sein kantiges Gesicht war bleich, seine Züge gequält, sein langes graues Haar verschwitzt und verfilzt.
    Keetje beobachtete den alten Heiler: Er tastete Yanns Kopf ab, spähte durch eine Lupe abwechseln in sein totes und in sein lebendes Auge, strich mit den Handflächen knapp über seiner Körperoberfläche entlang und raunte Beschwörungsformeln dabei. Vielleicht waren es auch Gebete, Keetje hatte keine Ahnung.
    Irgendwann packte er seine Instrumente zusammen und stand auf. Aus tausendfach zerfurchter Miene spähte er auf den erwartungsvoll zu ihm aufblickenden Yann hinab. »Es ist vorbei, Meister Haggard, dein Hirntumor macht Ernst. Du hast höchstens noch drei Monate. Wenn ich dir einen persönlichen Rat geben darf: Regle deine Angelegenheiten und gib einen Sarg in Auftrag.«
    ***
    8. März 2524, vor Orleans-à-l’Hauteur
    rinzessin Marie persönlich begleitete Matthew Drax zu seiner Kabine. Oder hieß es Zimmer? War das nun eine Stadt oder ein Luftschiff, auf dem er sich aufhielt? »Ihr werdet uns doch sicher die Ehre erweisen, mit uns zu Abend zu essen?«
    An ihr vorbei trat Matt über die Schwelle in den Raum, den sie ihm zugewiesen hatte. Ob man es Kabine oder anders nannte – es war eine Luxussuite. »Das würde ich sehr gern«, sagte Matt, »und ich freue mich, dass ausgerechnet Sie mich dazu einladen.« Er nahm ihre Hand und drückte einen Kuss auf die schmalen Finger. Wie er in diesem Moment auf diese Geste kam, war ihm selbst schleierhaft. In der US Army jedenfalls hatte er das nicht gelernt. »Es ist nur so, dass mich mein Bericht, den ich Ihnen und Ihrem Vater im Luftschiff gab, ziemlich aufgewühlt und einige alte Erinnerungen hochgespült hat. Ich würde den Abend gern allein verbringen.«
    »Das ist schade.« Das Lächeln fiel ihr fast ganz aus dem Gesicht, und sie musste sich Mühe geben, trotz ihrer Enttäuschung den charmanten Tonfall durchzuhalten. »Aber ich will Euch nicht drängen.«
    Dafür war Matt Drax ihr sehr dankbar. Er verabschiedete sich und schloss die Kabinentür hinter sich ab.
    Eine unruhige Nacht folgte. Der Mann aus der Vergangenheit schlief nur wenige Stunden, und wenn er einmal für kurze Zeit eingeschlafen war, raste er in einem Jet durch die Stratosphäre, schrie irgendetwas in ein Funkgerät, stürzte in ein Eisgebirge oder wanderte durch die von der Natur zurückeroberten Ruinen einer Großstadt in Norditalien. Er kämpfte gegen Taratzen, er wehrte sich gegen den Ansturm von Nosfera, er versteckte sich vor den Nachstellungen eines gewissen Professor Dr. Jacob Smythe, er schlief mit einer wilden Barbarin und flog mit ihr auf riesigen schwarzen Insekten über ein Eisgebirge nach Norden.
    Am Morgen, an der kaiserlichen Frühstückstafel, fühlte er sich wie ein Mann, der aus unerklärlichen Gründen den Weg zurück aus der Hölle gefunden hatte.
    Die Plaudereien links und rechts rauschten an ihm vorbei, das werbende Lächeln einer sichtbar enttäuschten Prinzessin Marie berührte ihn nicht, und den Flirt zwischen Prinz Akfat und der kaiserlichen Leibgardistin
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