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2132 - Der Saltansprecher

Titel: 2132 - Der Saltansprecher
Autoren: Unbekannt
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geschaffen worden war. Tieger spürte, wie Sebor die Knospe in seinen Mund schob, und biss ohne Zögern zu. Die Flüssigkeit, die aus der Hülle hervorquoll, schmeckte so bitter, dass er sie ausspucken wollte und nur mit großem Widerwillen schluckte. Er schüttelte sich. Einige Zuschauer lachten. Tieger wollte ihr Lachen erwidern, aber Sebors Blick hielt ihn davon ab. „Stell dich an den Rand der Bühne und bleib ruhig! Wenn dir schwindelig wird, setz dich hin." Tieger wagte keine Antwort, sondern ging mit gesenktem Kopf zur Seite. Der bittere Geschmack verschwand langsam aus seinem Mund, machte einer schweren Süße Platz, die er nur zu gut kannte. Ugazi, dachte Tieger erfreut. Mutter hatte Recht! Er sah auf und taumelte, als die Bühne unter seinen Füßen zu schwanken begann. Der Regen, der eben noch warm über seinen Körper geflossen war, fühlte sich plötzlich kalt an, kälter als alles, was Tieger jemals gespürt hatte. Seine Zähne schlugen unkontrolliert aufeinander, und er glaubte in einen dunklen Abgrund zu stürzen. Längst war die Bühne verschwunden und mit ihr seine Lehrer und die Zuschauer.
    Irgendwo schreit etwas, ein Tier vielleicht, nein, kein Tier, ein Pfauchone ... zwei Pfauchonen. Sein Daumen und sein Zeigefinger zählen sie, immer und immer wieder. Er sieht sie neben sich, streckt seine Hand nach ihren kostbaren Roben aus. Sie entgleiten ihm, werden tiefer in den reißenden, dunklen Strom gerissen. Er hört ihre Schreie, sieht ihre verzerrten, im Tode erstarrten Gesichter und presst sich die Hände auf die Ohren. Der Strom schlägt über ihren Körpern zusammen und breitet sich wie eine schwarze, unendlich große Decke über ihnen aus. Dann ist alles still. Tieger schlug die Augen auf und schrie.
    „Lass es uns noch einmal hören", sagte Sebor und streichelte, einer nervösen Angewohnheit folgend, den Saltan in seinem Hinterkopf. Es war das erste Mal in seinem langen Leben, dass er eine Weihzeremonie abgebrochen hatte, aber nach Tiegers Ausbruch war ihm keine andere Wahl geblieben. Jetzt saß er mit dem restlichen Komitee im Versammlungsraum und starrte auf das Aufzeichnungsgerät, das jemand geistesgegenwärtig auf der Bühne aktiviert hatte. Hemin, sein dritter Assistent und zuständig für alle technischen Belange, nickte und strich mit den Fingern über einige Knöpfe. Deren Eigenleuchten nahmen die Propheten hin, obwohl sie elektrisches Licht in ihren Dörfern und Städten verabscheuten. Schließlich befanden sie sich in einer Notlage, die keinen Aufschub duldete. „Is alles dunkel un so kalt", schallte ihnen Tiegers Stimme nach einem Moment entgegen. „Sin eins, zwei Daume, Zeigefinger - zwei Pfauchonen, tun schwimmen neben mir. Is aber kein Wasser, nur ... nichts oder so. Sin dünn un klein, haben teure Anziehsachen an. Ganz blau mit so goldenen Zeichen drauf. Ich will ihnen helfen, weil sie so schreien. Kann ich aber nich. Sin schon tot. Das, was überall so dunkel is, frisst sie auf. Und dann sin sie weg ... einfach so un alles is ruhig. Da is nur noch dunkel."
    Hemin schaltete das Gerät ab. Im Licht der Kerzen wirkte sein Gesicht hager und alt. „Blaue Roben mit goldenen Stickereien", sagte er. „Ihr wisst, was das bedeuten könnte." Natürlich wussten sie das. So sahen die Familienroben aus, die nur die direkten Angehörigen des Herrn des Göttlichen Glücks tragen durften. Tiegers Vision, wenn es sich denn tatsächlich um eine Vision handelte, schien ihren Herrscher zu betreffen. „Unsinn!", widersprach Rega gewohnt direkt. „Wir messen dem Geplapper eines Schwachsinnigen eine viel zu große Bedeutung bei. Er wird den Herrn des Göttlichen Glücks in irgendeiner Videoaufzeichnung gesehen und sich daran erinnert haben. Der Rest ist reine Phantasie."
    „Und wenn nicht?"
    Sebor drehte sich zu Kyren um, einem ruhigen, älteren Mann, der zwar als Einzelgänger galt, aber wegen seiner weisen Ratschläge von allen geschätzt wurde. „Was", fuhr er fort, „wenn Tieger wirklich den Tod zweier Prinzen gesehen hat oder, schlimmer noch, den Tod des Prinzenkriegers Jargath? Ist es nicht unsere Pflicht, den Hof auf diese drohende Gefahr aufmerksam zu machen?" Regas Schnaufen machte deutlich, was sie von der Theorie hielt. „Keine Vision ist so deutlich, wir alle wissen das. Visionen sind Metaphern, die man langsam zu entschlüsseln lernt und mit viel Geduld und Talent irgendwann zu deuten weiß. Wenn es so einfach wäre, wie du es darstellst, könnten wir das Schicksal von ganz
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