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213 - Aruulas Grab

213 - Aruulas Grab

Titel: 213 - Aruulas Grab
Autoren: Christian Schwarz
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Wort stimmt. Und wenn die wichtigen Worte in der richtigen Betonung ausgesprochen werden. Das ist die große Kunst der Geschichtenerzählerinnen von El Assud. Zudem müssen die Geschichten flüssig erzählt werden, du musst dir dringend deine Ähs und Nuns abgewöhnen. Aber das bekommen wir schon noch hin.«
    »Meinst du wirklich, Sherzade?«
    »Ja, natürlich. Für heute Morgen ist deine Übungsstunde beendet, Kindchen. Nutze den Tag und lerne die Geschichte des Sultans Scharban. Und heute Abend wirst du sie mir noch einmal erzählen.«
    »Gut, Sherzade.« Dinarzade strahlte übers ganze Gesicht und erhob sich geschmeidig.
    »Und nun hilf mir auf, Kindchen«, schnaufte die aktuelle Oberste Geschichtenerzählerin von El Assud, die dieses verantwortungsvolle Amt zusammen mit Sherzade der Achtundsechzigsten bekleidete.
    Dinarzade mühte sich redlich ab, Sherzade der Dreiundsechzigsten hoch zu helfen, schaffte es aber nicht allein. Sie musste den Oinucken Hassan zu Hilfe rufen. Der dicke Mann mit der hohen Stimme, den bunten Pluderhosen und dem hohen Turban war wesentlich stärker, als er auf den ersten Blick wirkte. Er zog die alternde Frau, die die Ausmaße eines Nilrosses hatte, ganz alleine hoch.
    Sherzade die Dreiundsechzigste blieb eine Minute lang schnaufend stehen, bevor sie durch den mit flauschigen Teppichen, wunderbaren Ornamenten, üppigen Möbeln und bunten Wandteppichen ausgestatteten Raum watschelte. Sie wollte ein wenig an die frische Luft. Die jungen Mädchen, die ihr begegneten, verneigten sich ehrfürchtig vor ihr. Durch ein mächtiges, wie ein Schlüsselloch geformtes Tor trat Sherzade die Dreiundsechzigste ins Freie. Auf der breiten Terrasse standen Sonnenschirme und kleine Tischchen. Sherzade die Achtundsechzigste saß an einem, ließ sich von einer Haremsdienerin kühlenden Fruchtsaft servieren und von einer anderen mit einem großen Fächer Luft zuwedeln.
    »Du weißt genau, dass das mein Platz ist«, keifte Sherzade die Dreiundsechzigste los. »Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du hier nichts zu suchen hast? Aber das machst du bewusst, um mich zu ärgern, nicht wahr? Du willst, dass ich mich aufrege und tot umfalle. Damit du endlich die Erste unter Gleichen bist. Aber den Gefallen tue ich dir nicht. Da kannst du lange drauf warten, Achtundsechzig. Dich überlebe ich auch noch. Locker. Also, rück eins weiter.«
    Sherzade die Achtundsechzigste, eine wesentlich jüngere Frau mit in der Tat betörendem Aussehen, erhob sich sofort und setzte sich an den Nebentisch. Theoretisch war sie Sherzade der Dreiundsechzigsten gleich gestellt. In Wirklichkeit hatte aber die Dienstältere das Sagen. Seit mehr als vierzig Jahren erfreute Sherzade die Dreiundsechzigste nun schon den Großfürsten von El Assud mit ihren Geschichten.
    Sie war bereits Saads Vater Selim zu Diensten gewesen und hatte vier ihrer Nachfolgerinnen überlebt, also die Nummern vierundsechzig bis siebenundsechzig.
    Sherzade die Dreiundsechzigste, die sich an ihren richtigen Namen schon lange nicht mehr erinnerte, ließ sich auf den Stuhl plumpsen. Sofort eilten drei Haremsdienerinnen herbei und befragten sie nach ihren Wünschen. Sie scheuchte sie mit einer ungnädigen Handbewegung weg. Ihr Blick schweifte über die Stadt El Assud hinweg, die direkt am Nil lag und in deren Straßen das Leben pulsierte. Zahlreiche Schiffe lagen an den Hafenkais und wurden be- und entladen. Heute konnte sie das bunte Gewimmel allerdings nicht so richtig genießen.
    »Was hältst du von Dinarzade?«, fragte sie ihre Kollegin, als sei nichts gewesen. Nicht, dass sie die Meinung Sherzades der Achtundsechzigsten wirklich interessierte, denn ihr eigenes Urteil war ohnehin schärfer und damit gerechter. Aber sie wollte einfach ein wenig plaudern, um sich den Schmerz von der Seele zu reden.
    »Dinarzade?« Sherzade die Achtundsechzigste lachte glockenhell. Sie schien keineswegs beleidigt zu sein. Und wenn, zeigte sie es nicht. »Ich sehe bereits, wie sie ihren Kopf abtransportieren. Die Kleine wäre besser im Harem nebenan gelandet. Dort hätte sie Saad wirklich erfreuen können, denn dazu hat sie zweifelsohne Talent. Doch als Geschichtenerzählerin ist sie völlig fehl am Platze.«
    Sherzade die Dreiundsechzigste nickte. Die Bewegung ging in den schwabbelnden Fettmassen unter. »Ja. Sie wird es niemals lernen. Und das bedrückt mich, denn ich mag sie sehr. Sie ist so… unschuldig. Es gibt einige hier, denen ich den Tod mehr gönne.«
    Zum Beispiel mir, dachte
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