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207 - Weg eines Gottes

207 - Weg eines Gottes

Titel: 207 - Weg eines Gottes
Autoren: Christian Schwarz
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Er erhob sich langsam und zog sich die verrutschte Fellmütze wieder über die Ohren. Ein erneuter Hustenanfall suchte ihn heim. Dieses Mal so stark, dass er sich krümmen musste, um den gelben Schleim loszuwerden, der seine Kehle in immer kürzeren Abständen verstopfte. Er keuchte und würgte. Dabei drohte sein Schädel vor Schmerzen fast zu zerspringen. Dann ging es wieder.
    Aus rot unterlaufenen, trüben Augen, aus denen das Wasser lief, blickte er in die Runde. »Was glotzt ihr so?«, fuhr er die vierzehn Männer und vier Frauen an, die mit ihm im Schneegestöber standen. Zerlumpte Gestalten, die auch nicht besser aussahen als er.
    Wie hatte der Kleine noch mal geheißen? Moo? Oder Boo? Ja, Boo hatte sein Sohn geheißen. Und er war erst ein Jahr alt gewesen, als ihn die verdammte Grippe erwischt hatte. Oder doch zwei? Oder drei? Tagelmust wusste es nicht mehr genau. Er wollte es auch nicht wissen. Es war ihm egal. Wie man den verdammten Husten weg bekam, das wollte er wissen. Der Tuareg fühlte sich unendlich müde, bis ins Innerste erschöpft, er spürte jeden Knochen. Die Kälte, die täglich schlimmer wurde, machte sie alle kaputt.
    Sein einst scharfer Geist war dumpf geworden. Immer seltener schaffte es Tagelmust, Situationen zu analysieren und Zusammenhänge zu erkennen. Das Sprechen fiel ihm zunehmend schwerer. Manchmal erinnerte er sich trotz größter Anstrengung nicht mehr an das Wort, das einen gewissen Gegenstand bezeichnete. Oder er verstand es einfach nicht mehr, seinen Genossen eine abstrakte Situation zu beschreiben.
    Dafür wurden die Phasen, in denen er in die graue Masse starrte, die zunehmend seinen Geist ausfüllte, immer länger. Es war schön, sich einfach darin zu verlieren, sich in ihr treiben zu lassen. Und wenn er wieder herausfand, dann eher deswegen, weil sich seine Instinkte meldeten. Essen, Kämpfen und sich Paaren wurden zunehmend zum Mittelpunkt seiner Existenz. Die Frauen und seit neuestem auch die Männer fürchteten sich, wenn er wie ein wildes Tier über sie herfiel und sie brüllend nahm. Da sie sich in einem ähnlichen Zustand befanden wie er, duckten sie sich und ließen es geschehen. Sie akzeptierten ihn wegen seiner Stärke und Wildheit mehr denn je als ihren Anführer.
    Tagelmust hätte sich gerne wieder in die graue Masse geflüchtet. Aber er riss sich zusammen. »Aufsitzen. Wir fahren weiter«, befahl er mit krächzender Stimme. Es kratzte ihn im Hals, er hustete erneut.
    Die Männer und Frauen enterten den Kamas, den sie noch immer besaßen. Eng drückten sie sich auf der Ladefläche aneinander. Nur den grünen Kristall, der in einer Ecke stand und der sie ins Paradies führen würde, wagten sie nicht zu berühren. Malheur, ein Franzose, der an der algerisch-malischen Grenze zu ihnen gestoßen war, lenkte die KTM. Er fuhr voraus, wie er das seit vielen Wochen tat. Den Jeep besaßen sie längst nicht mehr. Der Motor hatte einfach den Geist aufgegeben. Und die Pferde waren längst gebraten und gegessen, da sie in Zentralalgerien eine Phase ohne Vorräte hatten überbrücken müssen.
    Seit über zwei Jahren waren sie nun unterwegs. Anfangs hatte Tagelmust Hoffnung gehabt, dass es wärmer würde, je weiter sie nach Süden vordrangen. Aber bisher hatten sie ausschließlich mit dichter werdendem Schnee und beißender Kälte zu kämpfen gehabt.
    Mitten in der algerischen Sahara, bei Akabli, war ihre Gruppe am zahlreichsten gewesen. Tagelmust hatte vierunddreißig Leute befehligt. Sehr viel, wenn man bedachte, dass wohl die meisten Menschen der Katastrophe zum Opfer gefallen waren. Tagelmust jedenfalls war nur noch vereinzelt auf sie gestoßen. Nur die, die kleine Gruppen gebildet hatten, hatten noch gelebt. Einzelpersonen hatten dagegen höchstens in Ausnahmefällen eine Chance.
    Er hatte sie seiner Gruppe einverleibt. Die meisten jedenfalls. Doch so, wie die Gruppe anfänglich gewachsen war, schmolz sie nun wieder zusammen. Fast täglich verlor sie ein oder zwei Mitglieder an die Kälte. Aber der Tuareg mit seinem eisernen Willen trieb sie immer weiter.
     
    (Es wird nicht mehr lange gut gehen), analysierte Mul’hal’waak die Situation. (Bald werden sie alle tot sein. Die Strahlung bewirkt, dass ihr Verstand auf ein immer niedriger werdendes Niveau herabsinkt. Die Komplexität dessen, was sie ihren Geist nennen, schwindet immer mehr. Vielleicht wäre es mir sogar möglich, ab einer gewissen Schwelle einen der Primärrassenvertreter zu übernehmen.)
    (Vielleicht, ja. Das
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