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20.000 Meilen unter den Meeren

20.000 Meilen unter den Meeren

Titel: 20.000 Meilen unter den Meeren
Autoren: Jules Verne
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besaß, war unglaubhaft. Handelte es sich um militärische Materialtests irgendeines Landes? Der Glaube an ein Kriegswerkzeug wurde wankend, als die Staaten der Erde ihre Unbescholtenheitserklärungen abgegeben hatten. Sie fühlten sich alle bedroht, was ihren Versicherungen eine gewisse Glaubwürdigkeit verlieh. Außerdem war es unvorstellbar, dass der Bau eines solchen Seeriesen unbemerkt hätte vor sich gehen können. Damit fiel also die Hypothese vom Panzerschiff und nur die Monster-Idee blieb noch übrig. Weiße Wale und Seeschlangen haben die Fantasie der Menschen ja immer sehr stark beschäftigt.
    Da ich in Frankreich ein zweibändiges Werk über »Die Geheimnisse der Meerestiefen« veröffentlicht hatte, das von der gelehrten Welt mit großem Lob aufgenommen worden war, wurde ich als Spezialist in diesem noch ziemlich unklaren Teil der Naturwissenschaften häufiger zu den beunruhigenden Vorfällen befragt. Zunächst verweigerte ich jede Stellungnahme, aber nach dem Unfall der Scotia war auch ich von der Realität der Erscheinung überzeugt und veröffentlichte schließlich nach langem Bedrängtwerden einen ausführlichen Artikel über die Sache im New York Herald, den ich hier in Auszügen wiedergebe:
    Nach dem Ausscheiden all dieser Hypothesen bleibt also nur noch das Seetier von extremen Ausmaßen und Kräften übrig.
    Noch keine Sonde hat bisher die großen Tiefen der Ozeane erreicht, deshalb wissen wir nicht, was dort unten vorgeht, welche Tiere dort lebensfähig sind. Selbst für Vermutungen gibt es nur geringe Anhaltspunkte. Nähern wir uns dem Problem rein formal, müssten wir von folgender Voraussetzung ausgehen: Entweder kennen wir alle Gattungen von Lebewesen, die unsere Erde bevölkern, oder wir kennen nicht alle.
    Wenn wir sie nicht alle kennen und die Natur zum Beispiel noch ichthyologische Geheimnisse in ihren Meerestiefen verborgen hält, dann ist es durchaus vorstellbar, dass eines dieser unbekannten Tiere durch Zufälle auch einmal aus den Abgründen an die Oberfläche geworfen werden kann.
    Wenn wir aber nicht alle lebenden Gattungen kennen, dann müssen wir das fragliche Tier in diesen Gattungen suchen und da wäre ich bereit, die Existenz eines Riesen-Narwals zuzugestehen.
    Der gemeine Narwal, das Einhorn der Meere, erreicht eine Länge von knapp 20 m. Die Riesenausführung, die der Scotia zusetzte, ist demnach fünf- bis zehnmal so lang und im gleichen Maßstab vergrößert dürfen wir uns seine Kraft und seine Waffe denken.
    Diese Waffe ist ein Hauptzahn des Narwals, zu einer Art elfenbeinernem Degen ausgebildet, den das Tier sehr sinn- und erfolgreich wie eine Lanze verwendet. Man hat schon des Öfteren solche Zähne in den Leibern von Walen gefunden, andere staken in Schiffskielen. Das Pariser Museum der medizinischen Fakultät besitzt ein Exemplar von 2,25 m Länge, das an der Basis 48 cm Durchmesser hat.
    Wie gesagt: Zehnmal so stark, zehnmal so schnell, zehnmal so massig müssen wir uns das fragliche Ungeheuer ausrechnen, und wenn wir die Masse mit der Geschwindigkeit multiplizieren, ergibt das eine sehr ordentliche Stoßkraft, die einen Unfall, wie ihn die Scotia hatte, durchaus herbeiführen könnte.
    Bis weitere Informationen vorliegen, votiere ich also für ein Meer-Einhorn von kolossalen Ausmaßen mit einem Sporn ähnlich der Rammwaffe von Panzerfregatten, denen es an Kraft übrigens gleichkommt. Das wäre eine mögliche Erklärung des Phänomens, wenn die Einzelbeobachtungen stimmen. Denn dass sie nicht stimmen: Das wäre auch möglich.
    Die letzten Worte waren eine meiner typischen Feigheiten: Ich wollte mir eine Hintertür offenhalten, denn nichts fürchtet ein Professor so sehr wie den Spott des Publikums, wenn die Realität seine Thesen Lügen straft. Und die Amerikaner lachen kräftig, wenn sie lachen.
    Der Artikel fand großes Interesse und wurde hitzig diskutiert. Das Geschickteste an ihm war wohl, dass er der Fantasie so großen Spielraum ließ, denn der menschliche Geist berauscht sich gern an derartigen nicht ganz geheuren Vorstellungen unnatürlich wirkender Wesen. Das Meer ist der geeignetste Lebensbereich für sie. Elefanten und Nashörner sind lächerliche Zwerge gegen die Säugetiere, die das Wasser bereits beherbergt hat, und vielleicht finden sich auch heute in seinen unerforschten Tiefen noch Mollusken von unbeschreiblicher Größe oder schreckenerregende Schalentiere, 100-m-Hummer und Krabben von 200 t Gewicht … Die Tiere der Urzeit hatte der Schöpfer in
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