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1Q84: Buch 3

1Q84: Buch 3

Titel: 1Q84: Buch 3
Autoren: Haruki Murakami
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war ruhig, und man wurde von niemandem gestört. Aomame war sicher, dass Tengo zurückkehren würde, um die Monde zu sehen. Doch sofort überkamen sie Zweifel. Vielleicht hatte er längst einen geeigneteren Aussichtspunkt auf einem Hochhaus gefunden.
    Aomame schüttelte kurz und entschieden den Kopf. Sie durfte nicht zu viel grübeln. Ich habe keine andere Wahl, dachte sie, als hier auszuharren und daran zu glauben, dass er zurückkommt. Ich sitze hier fest. Der Park ist der einzige Berührungspunkt zwischen ihm und mir.
     
    Aomame hatte nicht abgedrückt.
    Es war Anfang September gewesen. Sie stand, in grelles Sonnenlicht getaucht, auf einem Pannenstreifen der Stadtautobahn Nr. 3 und hatte den schwarzen Lauf ihrer Heckler & Koch im Mund. Sie trug ihr Kostüm von Junko Shimada und die hochhackigen Schuhe von Charles Jourdan.
    Der Verkehr staute sich, und die Leute starrten sie aus ihren Autos an, ohne eine Ahnung zu haben, was vor sich ging. Die nicht mehr ganz junge Dame in dem silbernen Mercedes-Coupé. Sonnenverbrannte Männer, die von der Höhe ihres Lastwagens zu ihr hinunterschauten. Aomame beabsichtigte, sich vor aller Augen mit einer Neun-Millimeter das Gehirn wegzupusten. Für sie das einzige Mittel, sich aus dem Jahr 1Q84 herauszukatapultieren. Der Leader hatte ihr versprochen, im Austausch für ihr Leben Tengos Leben zu retten. Als Gegenleistung hatte er seinen eigenen Tod verlangt.
    Aomame bedauerte es nicht sonderlich, sterben zu müssen. Wahrscheinlich war ihr Schicksal schon besiegelt gewesen, als sie in das Jahr 1Q84 hineingesogen worden war. Sie folgte nur dem unausweichlichen Lauf der Dinge. Was hatte es für einen Sinn, allein auf dieser unverständlichen Welt mit ihren zwei Monden zu leben, auf der Wesen wie die Little People über das Schicksal der Menschen bestimmten?
    Aber am Ende hatte sie doch nicht abgedrückt. Hatte im letzten Augenblick den Zeigefinger ihrer rechten Hand vom Abzug genommen und den Lauf aus ihrem Mund gezogen. Hatte, wie ein Mensch, der vom Meeresgrund auftaucht, tief ein- und ausgeatmet. Um den gesamten Sauerstoff in ihrem Körper auszutauschen.
    Dass Aomame sich gegen den Tod entschieden hatte, verdankte sie der Stimme, die sie aus der Ferne vernommen hatte. Zunächst hatte völlige Stille sie umgeben. Als sie den Finger an den Abzug gelegt hatte, waren alle Geräusche um sie herum verstummt. Die Tiefe der Stille hatte sie an den Grund eines Schwimmbeckens erinnert. Der Tod hatte jegliche Düsterkeit und jeglichen Schrecken für sie verloren. Er war ihr so natürlich und selbstverständlich erschienen wie einem Embryo das Fruchtwasser. Nicht schlecht, hatte Aomame gedacht. Beinahe hatte sie sogar gelächelt.
    Dann hörte sie die Stimme.
    Sie schien von irgendwo weit her und aus einer fernen Zeit zu kommen. Sie konnte sich nicht an die Stimme erinnern, denn diese hatte auf ihrem langen, gewundenen Weg ihre spezifische Klangfarbe und ihre Eigenheiten verloren. Geblieben war nicht mehr als ein dumpfer Widerhall bar jeder ursprünglichen Bedeutung. Dennoch erkannte Aomame eine vertraute Wärme darin. Die Stimme schien ihren Namen zu rufen.
    Aomame entspannte den Finger am Abzug und lauschte aufmerksam. Sie bemühte sich, die Worte zu verstehen, die die Stimme aussandte. Aber alles, was sie hörte oder zu hören glaubte, war ihr Name. Der Rest war nur ein dumpfes Heulen wie von einem Windstoß, der durch eine Höhle fährt. Bald entfernte sich die Stimme und verlor immer mehr an Deutlichkeit, bis sie schließlich ganz von der lautlosen Stille verschluckt wurde. Das Vakuum, das Aomame umgab, zerbarst, und mit einem Schlag kehrte der Lärm zurück. So, als habe man irgendwo einen Stöpsel herausgezogen. Ehe sie sichs versah, hatte sie ihre innere Entschlossenheit zu sterben eingebüßt.
    Vielleicht kann ich Tengo wiedersehen, dachte Aomame. In dem kleinen Park. Sterben kann ich auch danach noch. Nur einmal noch will ich mein Glück versuchen. Leben – und nicht sterben – beinhaltete zugleich die Möglichkeit, Tengo zu begegnen. Ich will leben, dachte sie entschlossen. Es war ein seltsames Gefühl. Hatte sie es überhaupt schon einmal verspürt?
    Sie entspannte den Hahn ihrer Automatik, sicherte sie und packte sie wieder in ihre Schultertasche. Sie straffte ihren Rücken, setzte die Sonnenbrille auf und machte sich gegen den Verkehrsstrom auf den Weg zurück zu ihrem Taxi. Die Leute beobachteten schweigend, wie sie auf ihren hohen Absätzen die Autobahn entlangschritt. Sie
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