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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)
Autoren: George Orwell
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die Spezialität des Hauses.
    Winston lauschte auf den Televisor. Im Augenblick ertönte nur Musik, aber es bestand die Möglichkeit, daß jeden Augenblick eine Sondermeldung des Friedensministeriums erfolgte. Die Nachrichten von der Afrikafront waren äußerst beunruhigend. Immer wieder hatte er sich den ganzen Tag Sorgen darüber gemacht. Eine eurasische Armee (Ozeanien befand sich im Kriegszustand mit Eurasien: Ozeanien hatte sich immer im Kriegszustand mit Eurasien befunden) rückte in Eilmärschen gegen Süden vor. Der Tagesbericht vom Mittag hatte zwar kein bestimmtes Gebiet genannt, aber wahrscheinlich war die Kongomündung bereits Kriegsschauplatz. Brazzaville und Leopoldville waren in Gefahr. Man brauchte nicht erst die Landkarte anzusehen, um zu wissen, was das bedeutete. Es war nicht nur eine Frage des Verlustes von Mittelafrika: Zum erstenmal während des ganzen Krieges war das Gebiet von Ozeanien selbst bedroht.
    Eine erregte Gemütsbewegung, nicht gerade Furcht, aber ein ihr nicht unähnliches Gefühl, wallte in ihm hoch, dann verebbte sie wieder. Er hörte auf, an den Krieg zu denken. Gegenwärtig konnte er seine Gedanken nie länger als ein paar Augenblicke hintereinander auf einen Gegenstand gerichtet halten. Er erhob sein Glas und leerte es auf einen Zug. Wie immer, mußte er sich danach schütteln und einen leichten Brechreiz überwinden. Das Zeug war greulich. Das Sacharin und die Gewürznelken, die einem durch ihre widerliche Art an sich schon widerstehen, konnten den faden öligen Geschmack nicht vertuschen; am schlimmsten von allem aber war, daß der Gin-Geruch, den er Tag und Nacht nicht los wurde, in seiner Vorstellung unentwirrbar vermischt war mit dem Geruch dieser –.
    Er nannte sie nie bei Namen, sogar in Gedanken nicht, und so weit wie möglich stellte er sie sich nie im Geiste vor. Sie waren etwas, das ihm nur halbwegs zum Bewußtsein kam, das dicht vor seinem Gesicht herumschwebte, ein Geruch, den er in der Nase hatte. Als ihm der Gin hochkam, stieß er zwischen purpurroten Lippen auf. Er war beleibter geworden, seitdem sie ihn entlassen hatten, und hatte wieder seine alte Farbe bekommen – wahrhaftig, mehr als das. Seine Gesichtszüge hatten sich vergröbert, die Haut von Nase und Backenknochen war derb rot, sogar die Glatze war von einem zu dunklen Rosa. Ein Kellner brachte, wiederum unaufgefordert, das Schachbrett und die Tagesausgabe der Times , auf der Seite mit der Schachaufgabe aufgeschlagen. Dann, als er sah, daß Winstons Glas leer war, brachte er die Ginflasche und füllte es. Es bedurfte keiner Bestellung. Man kannte seine Gewohnheiten. Das Schachbrett wartete immer auf ihn, sein Ecktisch war immer reserviert. Sogar wenn das Lokal voll war, hatte er ihn für sich allein, da niemand Wert darauf legte, zu nahe von ihm sitzend gesehen zu werden. Er machte sich nie auch nur die Mühe, seine Gläser zu zählen. In unregelmäßigen Abständen wurde ihm ein schmutziger Fetzen Papier gebracht, von dem es hieß, es sei die Rechnung; aber er hatte den Eindruck, daß man ihm immer zu wenig aufrechnete. Es hätte keinen Unterschied ausgemacht, wenn das Gegenteil der Fall gewesen wäre. Er besaß jetzt immer eine Menge Geld. Er hatte sogar eine Stellung, eine Sinekure, die besser bezahlt war, als seine alte Stellung es gewesen war.
    Die Musik aus dem Televisor brach ab, und statt dessen kam eine Stimme. Winston hob den Kopf, um zu lauschen. Es war jedoch kein Frontbericht. Sondern lediglich eine kurze Verlautbarung des Ministeriums für Überfluß. Im vorausgehenden Vierteljahr, zeigte es sich, war die zehnte Quote für Schnürsenkel innerhalb des Dreijahresplans um achtundneunzig Prozent übertroffen worden.
    Er studierte die Schachaufgabe und stellte die Figuren auf. Es war ein verzwicktes Schlußspiel mit Hilfe von zwei Springern. »Weiß zieht und setzt Schwarz in zwei Zügen matt.« Winston blickte zu dem Bildnis des Großen Bruders empor. Weiß setzt immer matt, dachte er mit einer Art von dunklem Mystizismus.
    Immer, ohne Ausnahme, ist es so eingerichtet. Bei keiner Schachaufgabe seit Entstehung der Welt hat jemals Schwarz gewonnen. Symbolisierte das nicht den ewigen, unabänderlichen Sieg des Guten über das Böse? Das riesige Gesicht blickte voll ruhiger Macht auf ihn zurück. Weiß setzt immer matt.
    Die Stimme aus dem Televisor hielt inne und fügte in einem anderen, viel ernsteren Ton hinzu: »Wir machen unsere Hörer auf eine wichtige Meldung aufmerksam, die um fünfzehn
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