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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)
Autoren: George Orwell
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würde der Neusprachausdruck lauten) in seiner Tendenz. Praktisch bedeutete dies, daß kein vor 1960 geschriebenes Buch, so wie es war, übersetzt werden konnte. Vorrevolutionäre Literatur konnte nur einer ideologischen Übertragung unterzogen werden, das heißt einer Veränderung sowohl dem Sinne als der Sprache nach. Man nehme zum Beispiel die wohlbekannte Stelle aus der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung:
    Wir erachten diese Wahrheiten ah selbstverständlich, daß alle Menschen gleich erschaffen worden sind, daß der Schöpfer ihnen gewisse unabänderliche Rechte verliehen hat als solche sind: Leben, Freiheit, und das Streben nach Glück. Daß, um diese Rechte ihnen zu sichern, Regierungen unter den Menschen eingesetzt worden sind, deren gerechte Gewalt sich von der Zustimmung der Regierten herleitet. Daß, wenn immer eine Form der Regierung zerstörend in diese Endzwecke eingreift, das Volk das Recht besitzt, diese zu ändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen . . .
    Es wäre ganz unmöglich gewesen, dies in die Neusprache zu übertragen und dabei den Sinn des Originals zu erhalten. Am nächsten etwa käme diesem Vorgang das Aufgehen dieses ganzen Abschnittes in dem einen Wort: Verbrechdenk.   Eine vollständige Übersetzung hätte nur eine ideologische sein können, wobei Jeffersons Worte in eine Lobeshymne auf die absolutistische Regierungsform umgewandelt worden wären.
    Ein großer Teil der Literatur der Vergangenheit war tatsächlich schon in dieser Weise verändert worden.
    Prestigerücksichten ließen es wünschbar erscheinen, das Andenken an bestimmte historische Figuren beizubehalten, doch so, daß man deren Errungenschaften mit der Linie des Engsoz   in Einklang brachte.
    Verschiedene Schriftsteller wie Shakespeare, Milton, Swift, Byron, Dickens und andere wurden deshalb einer Übertragung unterzogen. Sobald dies vollbracht worden war, wurden sowohl die Originalwerke wie auch alles andere, das aus der Literatur der Vergangenheit übriggeblieben war, vernichtet. Diese Art von Übertragung waren eine langwierige und mühsame Angelegenheit, und deren Beendigung konnte nicht vor dem ersten oder zweiten Jahrzehnt des einundzwanzigsten Jahrhunderts erwartet werden. Es gab noch eine große Menge reiner Fachliteratur – unentbehrlich technische Handbücher und dergleichen, die in der gleichen Weise bearbeitet werden mußten. Hauptsächlich um Zeit zu den vorbereitenden Übersetzungsarbeiten zu gewinnen, wurde die endgültige Einführung der Neusprache auf einen so späten Zeitpunkt wie 2050 festgesetzt.
     

George Orwell
    geboren 1903 in Bengalen, gestorben 23. Januar 1950 in London
    Die leibhaftige Begegnung mit unserem Lieblingsautor macht uns meist um eine Illusion ärmer. George Orwell war einer der seltenen Schriftsteller, der in Aussehen und Gebaren genauso war, wie ihn sich der Leser seiner Bücher vorstellte. Dieser ungewöhnliche Gleichklang zwischen dem Menschen und seinem Werk entsprach der ungewöhnlichen Geschlossenheit und Integrität seines Charakters. Ein englischer Literaturkritiker hat ihn unlängst den redlichsten Autor der Gegenwart genannt; in der Tat ging seine bedingungslose geistige Redlichkeit so weit, ihn manchmal fast unmenschlich erscheinen zu lassen. Diese puritanische Strenge nahm gleichsam nur mit dem Quadrate der Entfernung ab: unerbittlich gegen sich selbst, unwirsch gegen seine Freunde, gleichgültig zu seinen Bewunderern, glimmte sein Mitgefühl erst draußen, an der Peripherie auf; in der »anonymen Menge in den großen Städten mit ihren knotigen Gesichtern, schlechten Zähnen und bescheidenfreundlichen Manieren«; beim Anblick der »Schlangen vor den Arbeitsämtern und der alten Jungfern, die morgens früh durch den Herbstnebel zur Beichte radeln . . .«
    Dieser einsame Mann war voller Liebe; und die Ausstrahlung dieser herben Nächstenliebe wurde um so wärmer, je größer die Entfernung von seiner eigenen Person. Er kannte weder Eigenliebe noch Selbstbemitleidung. Diese rücksichtslose Härte sich selbst gegenüber war der Schlüssel zu seiner Persönlichkeit; sie bestimmte seine Haltung dem inneren Feind, der Krankheit gegenüber, die seit seiner Jugend in seinen Lungen wütete. Sein Leben war eine einzige konsequente Folge von Revolten gegen die soziale Tyrannei im allgemeinen und gegen die physische Tyrannei, die seinem Körper auferlegt war; gegen die große Drift der Menschheit auf »1984« zu und gegen seine eigene Drift zu dem
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