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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)
Autoren: George Orwell
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bleicher, und eine teilweise von einer Haarsträhne bedeckte lange Narbe lief über ihre Stirn und Schläfe. Aber nicht das war die Veränderung. Sie bestand darin, daß ihre Taille dicker und in einer überraschenden Weise steif geworden war. Er erinnerte sich, wie er einmal nach der Explosion einer Raketenbombe geholfen hatte, eine Leiche aus den Trümmern zu ziehen, und nicht über das unglaubliche Gewicht des Toten gestaunt hatte, sondern über seine Steifheit und die Schwierigkeit, mit der er sich handhaben ließ, so daß er eher aus Stein als aus Fleisch zu sein schien. Ihr Körper fühlte sich ebenso an. Es kam ihm der Gedanke, daß das Gewebe ihrer Haut ein ganz anderes sein mußte als früher.
    Er versuchte nicht, sie zu küssen; auch sprachen sie nicht miteinander. Als sie über das Gras zurückgingen, sah sie ihn zum erstenmal unmittelbar an. Es war nur ein kurzer Blick, voll Verachtung und Abneigung. Er fragte sich, ob es eine Abneigung war, die sich nur aus der Vergangenheit herleitete, oder ob sie auch durch sein gedunsenes Gesicht und das Wasser, das ihm der Wind ständig aus den Augen trieb, verursacht war. Sie setzten sich auf zwei eiserne Stühle, Seite an Seite, aber nicht zu eng nebeneinander. Er sah, daß sie im Begriff war, zu sprechen. Sie schob ihren plumpen Schuh ein paar Zentimeter vor und zertrat bedachtsam einen Zweig. Ihr Fuß schien breiter geworden zu sein, bemerkte er.
    »Ich habe dich verraten«, sagte sie trocken.
    »Auch ich verriet dich«, sagte er.
    Sie warf ihm einen erneuten kurzen Blick des Abscheus zu.
    »Manchmal«, sagte sie, »drohen sie einem mit etwas – etwas, das man nicht aushalten, ja nicht einmal ausdenken kann. Und dann sagt man: ›Tut es nicht mir an, tut es jemand anderem, tut es dem Soundso an.‹
    Und vielleicht macht man sich nachher vor, es sei nur ein Kniff gewesen, und man habe nur eben so gesagt, damit sie aufhörten, und es sei einem nicht wirklich ernst damit gewesen. Aber das ist nicht wahr. Zur Zeit, wenn es sich abspielt, ist es einem ernst damit. Man glaubt, es gebe keinen anderen Ausweg, um sich selbst zu retten, und man ist durchaus bereit, sich auf diese Weise zu retten. Man will , daß es dem anderen widerfährt. Es kümmert einen keinen Pfifferling, was sie leiden. Es geht nur noch um einen selbst.«
    »Es geht nur noch um einen selbst«, echote er.
    »Und danach empfindet man für den anderen Menschen nicht mehr dasselbe.«
    »Nein«, sagte er, »man empfindet nicht mehr dasselbe.«
    Es schien, sie hätten sich nichts mehr zu sagen. Der Wind klatschte ihre dünnen Trainingsanzüge an ihre Leiber. Mit einmal setzte es einen in Verlegenheit, schweigend dazusitzen: außerdem war es zu kalt, um stillzusitzen. Sie murmelte etwas, sie müßte ihre Untergrundbahn erreichen, und stand zum Gehen auf.
    »Wir müssen uns wiedersehen«, sagte er.
    »Ja«, sagte sie, »wir müssen uns wiedersehen.«
    Unentschlossen ging er ein kleines Stück weit mit, einen halben Schritt hinter ihr. Sie sprachen nicht noch einmal. Sie versuchte nicht direkt, ihn abzuschütteln, sondern ging nur eben in solchem Tempo, daß er nicht mit ihr Schritt halten konnte. Er hatte bei sich beschlossen, sie bis zum Untergrundbahnhof zu begleiten, aber plötzlich schien dieses Sich-durch-die-Kälte-Hinterherziehen-lassen sinnlos und unerträglich.
    Er fühlte einen brennenden Wunsch, nicht so sehr von Julia wegzukommen, als ins Café »Zum Kastanienbaum« zurückzukehren, das ihm nie so anziehend vorgekommen war wie in diesem Augenblick.
    Er hatte eine sehnsüchtige Vision von seinem Ecktisch mit der Zeitung, dem Schachbrett und dem ewig fließenden Gin. Vor allem würde es dort warm sein. Im nächsten Augenblick wurde er, rein zufällig, durch eine kleine Gruppe Menschen von ihr getrennt. Er machte einen schwachen Versuch, sie einzuholen, dann wurde er langsamer, machte kehrt und ging in entgegengesetzter Richtung davon. Als er fünfzig Meter gegangen war, blickte er sich um. Es waren nicht viele Menschen auf der Straße, aber schon konnte er sie nicht mehr unterscheiden. Jede von einem Dutzend eilender Gestalten hätte Julia sein können. Vielleicht war ihr dick und steif gewordener Rücken nicht mehr unter den anderen Menschen herauszufinden.
    »Zur Zeit, wenn es sich abspielt«, hatte sie gesagt, »ist es einem ernst damit.« Es war ihm ernst damit gewesen. Er hatte es nicht nur gesagt, sondern auch gewünscht, daß sie und nicht er ausgeliefert würde an die –.
    Etwas an der
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