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192 - Nah und doch so fern

192 - Nah und doch so fern

Titel: 192 - Nah und doch so fern
Autoren: Stephanie Seidel
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Hornhaken von der Größe eines Armes pflügten durchs Erdreich, zwei, drei Meter weit. Dann schwenkte er herum und wiederholte die Aktion. Als er fertig war, hatte Thgáan eine tiefe Furche geschaffen.
    »Das genügt!«, sagte Grao’sil’aana zufrieden, entließ den Rochen in den Aufwind und ging an die Arbeit.
    Unter der Schirmakazie hatte sich viel Laub angesammelt.
    Grao’sil’aana befüllte damit die Furche, dann machte er sich daran, Daa’tan zu entkleiden. Der Junge würde ein ganzes Stück wachsen, da war Stoff nicht opportun. Er konnte reißen, ihn womöglich verletzen.
    Irgendwann in den nächsten Tagen muss ich neue Sachen für ihn beschaffen, dachte der Daa’mure und fügte verärgert hinzu: Und danach muss ich meinen Hormonspiegel scannen!
    Ich führe mich auf wie ein altes Weib!
    Grao’sil’aanas Ärger verflog, als er den Jungen ausgepackt hatte. Daa’tan war so ein mageres Kind, kaum mehr als Haut und Knochen. Er wirkte immer schon schutzbedürftig, trotz seiner großen Klappe. Aber jetzt, mit diesem zarten stillen Gesicht und dem Netz grüner Adern, das den ganzen Körper überzog, konnte er hilfloser nicht sein. Ein kleiner Junge, in katatonischer Starre gefangen und der Welt auf Gnade und Ungnade ausgeliefert.
    Etwas berührte Graos Doppelherz, dieses rein organische Ding in seinem Wirtskörper. Er ignorierte es, legte Daa’tan in die Erde und begann ihn mit Laub zu bedecken.
    Eine Armvoll nach der anderen rieselte auf den Jungen herab. Grao’sil’aana achtete beim Verteilen darauf, dass möglichst frische Blätter an die Haut gelangten. Er entfernte dabei sorgfältig alle Dornen und zerbrochene Zweige, und er wunderte sich über sich selbst.
    Bulgarien fiel ihm ein. Der erste Wachstumsschub, bei dem er anwesend war. Die zerfallene Bergkapelle irgendwo in den Wäldern; Regen, Kälte, das feuchte Laub. Grao’sil’aana hatte es zusammengerafft und über den Jungen geschüttet – es hätten Würmer darin leben können, das wäre ihm egal gewesen. Er erinnerte sich noch gut an seine tiefe Abneigung gegen den damals Zweijährigen, der wie ein Fünfjähriger aussah und einem Löcher in den Bauch fragte. Daa’tan war in jenen Tagen nur eine Aufgabe weit unter Grao’sil’aanas Niveau gewesen, die er nicht haben wollte.
    Damals.
    Nachdenklich betrachtete er das schmale Kindergesicht, das so verloren aus der Laubdecke ragte. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er es ausgespart hatte. Warum eigentlich?
    Machte es einen Unterschied, ob er Daa’tans Bauch oder Kopf einhüllte? Nein, tat es nicht. Während der Wachstumsphase reduzierten sich alle lebenserhaltenden Körperfunktionen auf ein notwendiges Minimum. Auch die Atmung. Daa’tan würde kein Leid geschehen unter der Erde. Was also hielt Grao’sil’aana davon ab, seine Arbeit zu vollenden?
    (Es ist das letzte Mal, dass ich dieses Gesicht sehe), dachte der Daa’mure, während er sich vorbeugte und eine Haarsträhne aus Daa’tans Stirn schob. (Wenn er wieder ans Licht kommt, wird er ein junger Mann sein. Achtzehn Umläufe, schätze ich.
    Dann dauert es nicht mehr lange, bis er seinen Weg alleine geht.)
    Grao’sil’aana konnte sich nicht erklären, warum der Hals seines Wirtskörpers plötzlich so eng war. Vielleicht eine Fehlfunktion?
    Grao’sil’aana seufzte. (Es kann nicht sein, dass ich den Verlust eines vorlauten, aufsässigen Zwölfjährigen ernsthaft bedauere), dachte er und begann Daa’tans Gesicht mit Blättern zu bedecken. Sanft, und nur mit den Besten. (In was für Situationen hat er mich schon gebracht!) Er erinnerte sich an den Kampf um Isfa’an (siehe MADDRAX 166) , bei dem Daa’tan im Alleingang einer Horde wilder Tuurks entgegengetreten war. Nicht, dass es ihm jemand gestattet hätte! Die Sache ging ihn auch gar nichts an, aber er wollte ja unbedingt das weiße Pferd des Anführers haben.
    (Und wer musste nach dessen Tod die wütenden Tuurks davon abhalten, Isfa’an zu stürmen?) Grao’sil’aana wischte den Staub von einem Akazienblatt und legte es über Daa’tans Mund. (Er weiß bis heute nicht, dass ich das war!) Trotzdem war das damals ein guter Tag gewesen! Daa’tans Eingreifen hatte den tuurkischen Anführer den Kopf gekostet, und über das spektakuläre Bild sprach man in Isfa’an bestimmt noch heute!
    »Hmm-m«, machte Grao’sil’aana, ein Akazienblatt in der Hand. Schneid hatte er ja! Aber die schmale Gratwanderung zwischen Mut und Übermut beherrschte er nicht. (Wenn ich nur daran denke, wie
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